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Globalisierung, Pandemie, Klimawandel und die Verwandlung der „alten Welt“, ca. 1200-1500 • PH OÖ, Linz, 5. Februar 2020 Dr. Johannes Preiser-Kapeller, Institut für Mittelalterforschung/Abt. Byzanzforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften Dr. Egmont Schmidt, Pädagogische Hochschule Oberösterreich Der Aufstieg des Temüdschin zum Dschingis Khan der Mongolen (1190-1206) Nachdem er während eines besonders kalten Winters nackt durch die karge Steppe und die Berge gewandert war, kehrte der Schamane Teb-tengri zurück und verkündete: “Gott hat zu mir gesprochen und verkündet: Ich habe das ganze Antlitz der Erde an Temüdschin und seine Kinder übergeben und ihn Dschingis Khan genannt.” (Aus: Die Geheime Geschichte der Mongolen) 3 Die Feldzüge und Eroberungen unter Dschingis Khans bis zu seinem Tod 1227: Nordchina, Zentralasien, Iran und pontische Steppen – Neuorganisation der Steppe, die Nutzung innerer Spaltungen, die Integration neuer Truppen und Umsiedlungen als "Hirte der Menschen" Oiraten Tsonjin Boldog, 2008 4 Die mongolischen Feldzüge nach Ost-, Mittel- und Südosteuropa und die Eroberung der russischen Fürstentümer, 1237-1241 5 Die Feldzüge des Dschingis-Enkels Hülegü (gest. 1265) und der Generäle Guo Kan und Kitbuga („nestorianischer“ Christ) bis zur Eroberung Bagdads, 1256-1258 Der Ilchan Hülegü bei der Rast (Miniatur, Hs. Buchara, 16. Jh., British Museum) 6 Die Teilung des Reiches und die Pax Mongolica, 13.-14. Jh. 7 Das mongolische Staatspostsystem (Yam – Route, Örtöö – Station und Païza – Pass) und die Nutzungsregelung in der Jassa (> 300-500? km/Tag) „Als meine zweite Tat ließ ich Poststationen einrichten, damit unsere Boten auf dem ganzen Weg in Eile reiten konnten. und zu diesem Zweck ließ ich alle Notwendigkeiten zu den Poststationen befördern.„ (Geheime Geschichte der Mongolen) Dreisprachige Païza (Persisch – Mongolisch – Uigurisch) Pax Mongolica und „Globalisierung“ Campbell 2016 9 Niccolò, Maffeo und Marco Polo und die zweite Reise zum Großkhan, 1271-1294 10 Die zeitliche Verteilung der bei F. REICHERT (Begegnungen mit China: Die Entdeckung Ostasiens im Mittelalter. Stuttgart 1992) verzeichneten 124 Reisenden aus West- und Mitteleuropa nach Ost- und Zentralasien, 12421448 (nach dem Jahr ihrer Abreise) 11 Muslime und andere „Fremde“ als Mitglieder der Eliten in Militär und Verwaltung im mongolischen China Mongolen se-mu jen („Verschiedene Völker“) „Die Beamten in der Hangzhou-Zucker-Verwaltung sind allesamt reiche jüdische und muslimische Kaufleute“ (Shan Ju Xin Hua, 1360) Han jen (Bewohner Nordchinas) nan jen (Südchinesen) 12 Religiöse Toleranz und Pragmatismus unter Kublai Khan (1260-1294) • Dies [das Küssen der Heiligen Schrift] war seine übliche Praxis auf jedem der wichtigsten christlichen Feste wie Ostern und Weihnachten; und er tat dasselbe bei den Festen der Sarazenen, Juden und Götzendiener [= Buddhisten]. Als er nach seinem Motiv für dieses Verhalten gefragt wurde, sagte er: „Es gibt vier große Propheten, die von den verschiedenen Gruppen der Menschheit verehrt werden. Die Christen betrachten Jesus Christus als ihre Gottheit; die Sarazenen Mohammed; die Juden Moses; und die Götzendiener Buddha, die bedeutendste unter ihren Götzen. Ich ehre und respektiere alle vier und rufe sie um Hilfe an, was auch immer unter ihnen in Wahrheit das Oberste im Himmel ist. (Bericht des Marco Polo) Katholische Mission, das Erzbistum von Khanbaliq (Beijing) ab 1307 und das Erzbistum von Sultaniyya ab 1318 14 Die Gesandtschaft des Rabban Bar Sauma nach Byzanz und Westeuropa (1287-1288) und die Beziehungen der Ilchane zur christlichen Welt Schreiben des Ilchan Arghun an König Philipp IV. von Frankreich „Als Rabban Bar Sauma nun (nach Konstantinopel) eingezogen war, wies der König ihm ein Haus, das heißt, eine Herberge, als Wohnung zu. Nachdem er sich ausgeruht hatte, ging er zum König Basileus. (…) Zuerst ging er (Rabban Bar Sauma) in die Kathedrale der Hagia Sophia, die 360 Pforten hat, alle aus Alabaster gefertigt. Die Altarkuppel aber kann man einem, der sie nicht gesehen hat, weder beschreiben, noch die Art ihrer Höhe und Größe bekanntmachen. (…) Er sah auch viele andere Grabstätten der heiligen Väter, viele Amulette und Bilder, die aus Kupfer und Stein gemacht waren.“ (übers. Toepel, S. 74-75) Ein falscher Erzbischof Johannes von Ninive und das Siegel des armenischen Katholiken Jakob I. (1268-1286) auf Tiroler Ablaßbriefen (1293) (W. Seibt, 2012) 16 Gold-Seide-Stoff für den Ilchan Abu Said (reg. 1316-1335), verwendet als Grabgewand Herzog Rudolfs IV. (gest. 1365 in Mailand), Domschatz Wien, mit persischer Inschrift: „Ehre sei unserem Herrn, dem erhabenen Sultan, verherrlicht im Ruhme, Höhe des Diesseits und der Religion, Busaid Bahadur Chan; Allah erhalte immerwährend seine Herrschaft.“ 17 Der Übergang von der Mittelalterlichen Warmzeit zur Kleinen Eiszeit im 13.-15. Jh. Campbell 2016 Campbell 2016 18 Sonnenaktivität und Sonnenflecken 19 Vulkanausbrüche und climate forcing 20 Die „Mystery eruption“ of 1257/1258 und ihre Folgen (St Mary Hospital in London) “Der Nordwind wehte über mehrere Monate, und als April, Mai und ein großer Teil des Juni vorüber waren, erschien kaum eine kleine Blume oder ein Keim. (…) Unzählige arme Menschen starben und ihre Körper wurden gefunden vor Mangel geschwollen, fünf oder sechs zusammen. (…) die Seuche war unerträglich; sie griff besonders die Armen an. Allein in London starben 15.000 der Armen; in England und anderswo starben Tausende. Der Adel verteilte an bestimmten Tagen in London Brot (…) Die Reichen konnten dem Tod nur durch den Kauf von ausländischem Getreide entkommen..” Connell, B. et al., A bioarchaeological study of medieval burials on the site of St Mary Spital: excavations at Spitalfields Market, London E1, 1991–2007. Museum London Archeol. Monogr. Ser. 60, 1–303 (2012). Der Ausbruch des Samalas auf Lombok, 1257 Die Segara Anak caldera Vulkane als mögliche Katalysatoren des Klimawandels From: C. Oppenheimer, Eruptions that Shook the World. Cambridge 2011 Das Ende der Wikingersiedlungen auf Grönland Campbell 2016 24 Die Kleine Eiszeit und das Zufrieren der Lagune von Venedig 25 Extremereignisse: die erste „Grote Mandrenke“ (Zweite Marcellusflut, 16. Jänner 1362) Aus: Daim u. a., 2011 26 2016 Die Hungerkrise 1315-1317 Campbell 2016 http://drought.memphis.edu/OWDA/ (Old World Drought Atlas) 28 Globale Epidemien: Viehseuchen Campbell 2016 29 Globale Epidemien: der Schwarze Tod und seine Wiederkehr bis ins 17./19. Jh. Aus: Benedictow, 2004 30 Die eindeutige Bestimmung des Erregers: Yersinia pestis Campbell 2016 31 Beulenpest und sekundäre Lungenpest http://www.yersiniapestis.info/infektionszyklus.html 32 Klimaveränderung und das Risiko einer Pestepidemie Campbell 2016 33 Von der Zoonose zur Pandemie, von Zentralasien in „alle Welt“ Campbell 2016 Campbell 2016 34 Nutzen und Gefahren komplexer globaler Netzwerk: „small worlds“ Nutzen und Gefahren komplexer globaler Netzwerk: „small worlds“ SARS (Schweres Akutes Respiratorische Syndrom) und das SARS-assoziierte Coronavirus, 2002-2003: ca. 1000 Todesopfer 37 Die Ausbreitung des Corona-Virus – COVID-19, 2019-2020 https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda759474 0fd40299423467b48e9ecf6 38 „Epidemische Diffusionsprozesse“ in globalen Netzwerken: Yersinia pestis, 1346-1351 Globale Epidemien: der Schwarze Tod und seine Wiederkehr bis ins 17./19. Jh. Aus: Benedictow, 2004 40 Wetterextreme, Hunger, Seuchen und soziale Unruhen Campbell 2016 41 Campbell 2016 Wetterextreme, sozioökonomische Krisen und Judenverfolgungen, 1100-1800 Risiko steigt von 2 % auf 3-3,5 % (Verfolgung alle 50 Jahre > 29 Jahre); Einfluss von landwirtschaftlicher Kapazität und Stärke (und Willen) staatlicher Autoritäten Robert Warren Anderson, Noel D. Johnson and Mark Koyama, Jewish Persecutions and Weather Shocks 42 1100-1800. The Economic Journal, August 2016 (DOI: 10.1111/ecoj.12331) Die Krise des Spätmittelalters in österreichischen Landen Wagner 1995 43 Krise, Bevölkerungsverluste und Dorfwüstungen im spätmittelalterlichen Österreich Die „Dorfwüstung“ Hard nahe dem Fluss Thaya in Niederösterreich http://www.univie.ac.at/wuestungsforschung/grabung.htm 44 Die Hostienschändung in Pulkau und die Verfolgung der Juden, ab Ostern 1338 (maximum exterminium factum est iudeorum) – Untersuchung im Auftrag von Papst Benedikt XII. Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, I. Innsbruck 2005, Nr. 434-436, 442-443. 45 Der Komet 1337 und die Heuschreckenplage im heißen Sommer 1338 Kaiser Karl IV., Schilderung der Heuschreckenplage vom Juli 1338 Es riß uns ein Soldat bei Sonnenaufgang aus dem Schlaf und rief: "Herr, steht auf, der jüngste Tag bricht an, denn die ganze Welt ist voller Heuschrecken!". Da erhoben wir uns, bestiegen das Pferd und ritten eilig bis Pulkau, weil wir ihr Ende sehen wollten. Erst dort, nach sieben Meilen, war es festzustellen. Die Breite des Zuges konnten wir nicht überblicken. Ihr Zirpen glich eher einem tosenden Lärm, ihre Flügel waren wie mit schwarzen Buchstaben gezeichnet, sie wirkten wie ein dichtes Schneetreiben, so daß man ihretwegen die Sonne nicht mehr sehen konnte. Sie verbreiteten einen aufdringlichen Gestank. Bald teilten sie sich: Die einen nach Bayern, andere nach Franken, wieder andere in die Lombardei, andere über die ganze Erde. Sie vermehrten sich stark, denn zwei von ihnen zeugten in einer Nacht mehr als zwanzig. Sie waren klein, aber wuchsen schnell. Man fand sie drei Jahre lang. (Aus: Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie Karls IV. Einführung, Übersetzung und Kommentar von Eugen Hillenbrand, 1979, S. 142 f.) Aus: Glaser 2008 46 Die Verfolgungswelle aus Deggendorf in Bayern, Herbst 1338 (> Innviertel) 47 Die Verbreitung der Pest nach Österreich 1349 und die Wetterextreme 1347-1350 48 Die Pestpogrome im Jahr 1349 („quibusdam pulveribus toxicassent“) Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, II. Innsbruck 2010, Nr. 646. 49 “Great Transition” zu “new socio-ecological regime” (Campbell 2016). “Positive” Langzeiteffekte der Krise des 14. Jahrhunderts und der Pestepidemien? Campbell 2016 E. Chaney, Medieval Origins: A Review Essay on Campbell's The Great Transition. Journal of Economic Literature, 56 (2) (2018): 643-56. 50 Die “Great Transition”, die “Great Divergence”, Westeuropa, China und Japan “In the eleventh century, on the eve of its commercial revolution, no country in Europe had been as developed as Song China and all were poorer. Even after the devastation of the Mongol invasion and the conquest the most developed parts of Yuan China may still have had the edge over their European counterparts. Yet, by the End of the Great Transition, England, the Low Countries, France, Germany and Italy were collectively on par with Ming China and GDP per head in Europe´s richest and most urbanized regions – the Northern and Southern Low Countries and the centre and north of Italy – matched that of the most developed region of the Far East, notably the Yangzi Province of China. Moreover, the richest parts of Europe were three times richer than contemporary Japan.* Where the leading European economies had stagnated those of the Far East had slipped backwards, so that by the close of the fifteenth century any “great divergence” that may once have existed between the economies of eastern China and western Europe had effectively disappeared.” Campbell 2016, p. 379. * Source: St. N. Broadberry et al., British economic growth 12701870. Cambridge 2015. Die “Great Divergence”-Debatte: von der Industriellen Revolution zum Spätmittelalter zur “First Great Divergence” nach dem Fall Roms: politische Fragmentierung und institutioneller Wandel? https://pseudoerasmus.com/2014/06/12/the-little-divergence/ 2000 2019 2019 Eine verflochtene Welt vor der „europäischen Hegemonie“: die Reisen des Ibn Battuta, 1325-1354 1300 1400 Proxy-Daten für das Hydroklima aus dem mittleren und östlichen Mittelmeerraum für das vergangene Jahrtausend (aus Xoplaki et al. 2018) The Little Ice Age and Byzantium within the Eastern Mediterranean, ca. 1200–1350 J. Preiser-Kapeller – E. Mitsiou, The Little Ice Age and Byzantium within the Eastern Mediterranean, ca. 1200–1350: an Essay on Old Debates and New Scenarios: https://doi.org/10.1515/9783110660784-010 December 2019 Baumringdaten für Albanien, 1200-1400, mit zehnjährigem gleitendem Durchschnitt Das Ende des Wachstums in Zentralgriechenland Halos L. Voulkaria Bauron Lerna IZDEBSKI – G. KOLOCH – SŁOCZYŃSKI 2015 Die Ausbreitung der Pest im Schwarzen Meer, in der Ägäis und in Anatolien, 1346-1349 From: Varlik 2015 Die möglichen demografischen Auswirkungen der Pest in den byzantinischen Provinzen Cf. C. Tsiamis et al., Epidemic waves of the Black Death in the Byzantine Empire(1347-1453 AD). Le Infezioni in Medicina, n. 3, 193-201, 2011 Anzahl der Haushalte für ausgewählte Dörfer in Mazedonien, die in den Steuerlisten der AthosKlöster (1300-1409) eingetragen wurden (aus: Preiser-Kapeller – Mitsiou 2019) Die Fragilität politischer Netzwerke und Konflikte in der Elite im Byzanz des 14. Jahrhunderts Aus: J. Preiser-Kapeller, Calculating the Middle Ages? The Project “Complexities and Networks in the Medieval Mediterranean and the Near East”. Medieval Worlds Issue 2/2015: “Empires in Decay”, pp. 100–127 Die Schwäche des politischen Zusammenhalts, die Fragmentierung des Balkans und die osmanische Expansion ab 1352 63 Osman und Orhan - Ghazi oder „Broker“? Die Anziehungskraft des osmanischen „Projekts“ K. Barkey, Empire of Difference: The Ottomans in Comparative Perspective, Cambridge 2008 65 Die Eroberung von Nikaia/Iznik, 1331 (nach der Chronik des ‛Āşıḳpaşazāde, 15. Jh.) (In Iznik) schmachtete man bitterlich unter dem Hunger, denn die Dörfer des umliegenden Landes hatte Orhan Gazi seinen Lehensleuten gegeben, und man tat den Giauren in den Dörfern nicht das geringste zuleide, damit sie den Besatzungen der dortigen Burgen Lebensmittel brächten. Es kam sogar vor, daß sie gemeinsam mit den Muslimen zum Kampf auszogen. Zu den Leuten in Iznik sagen sie: „Verschafft euch doch endlich Ruhe, ihr Armen, so wie wir jetzt Ruhe haben.“ (…) Die Giauren (aus Iznik) sandten einen hinaus, in den sie Vertrauen hatten, und ließen sagen: „Macht mit uns einen Vergleich, daß ihr uns nicht umbringen werdet und daß, wer von uns abziehen will, abziehen kann, und wer bleiben will, bleiben kann; dann wollen wir euch die Burg übergeben.“ Orhan Gazi willigte ein, denn er sagte sich „Großmut ist die trefflichste Art des Glaubenskampfes.“ 66 Die Pest und Pollendaten für Bithynien, 1200-1600 Halos L. Voulkaria Bauron Lerna IZDEBSKI – G. KOLOCH – SŁOCZYŃSKI 2015 Y. Ayalon, Natural Disasters in the Ottoman Empire. Cambridge 2014, p. 50: “The Black Death obviously affected the Ottomans, too, but to a much lesser extent. (…) Being constantly on the move, the Ottoman forces were less susceptible to plague and suffered fewer casualties than the Byzantines.” (aber Varlik 2016) Erzwungene und freiwillige Integration christlicher Bevölkerung und Eliten des Balkans in das „Osmanische Projekt“ (devşirme [Sammlung von Buben] für die yeni çeri [“neue Truppe”, ab Murat I., 1360-1389]) Devşirme. Osmanische Miniatur, 1558 Von den Kreuzfahrern zu den Mamluken und der Übergang zur Kleinen Eiszeit in den Pollendaten von Nordsyrien, 13.-14. Jh. D. Kaniewski et al., The medieval climate anomaly and the little Ice Age in coastal Syria inferred from pollen-derived palaeoclimatic patterns. Global and Planetary Change 78 (2011) 178–187 Die Nilschwemme (Anfang Juni – Anfang Oktober) in Ägypten und „Teleconnections“ zwischen Atlantik, Indischem Ozean und Pazifik 70 Zwischen Mangel und „Überfluss“ – die Messung der Nilflut Die 13. und 14. Elle tragen die Namen der beiden Grabesengel Munkar und Nakīr, denn wenn das Wasser unterhalb der 15. Elle stehenbleibt, droht eine Hungersnot, und das öffentliche Gebet um Regen wird angeordnet. Zeigt der Pegel zwar 15, bleibt aber unter 16 Ellen, dann bedeutet das für einen Teil der Bevölkerung Wohlstand; doch muss den Benachteiligten, deren Felder nicht überflutet werden, ein Teil der Steuern erlassen werden. Erst bei vollen 16 Ellen kann der Fiskus die Erntesteuer in vollem Umfang erheben. Da aber auch bei diesem Wasserstand das höher gelegene Weideland nicht überflutet wird, entsteht ein Mangel an Viehfutter. Erst bei üppigen 17 Ellen ist die Gefahr gebannt. Bei der 18. Elle beginnt bereits der Katastrophenbereich: die Siedlungen sind bedroht, der Abfluss des Wassers dauert zu lange, die Felder nehmen Schaden und können nicht rechtzeitig besät werden. (Halm 2003, 61-62; nach al-Masʿūdī, Buch der Goldwiesen und Edelsteingruben) Das Nilometer auf der Insel Roda bei al-Fustat/Kairo71 Niedrige Flut, Spekulation, Hamsterkäufe und Drohungen des Kalifen al-Ḥākim in Kairo, 1008 Der Nil erreichte nicht sein normales Niveau und erreichte mit dreizehn Ellen und ein paar Fingern die Spitze, was zu einem Preisanstieg führte. Masud al-Saqlabi [Befehlshaber der Polizei und Aufseher der Märkte in Fustat und Kairo] wurde angewiesen, sich mit der Preisfrage zu befassen. Er versammelte die Getreidespeicherbesitzer, die Müller und die Bäcker, beschlagnahmte das Getreide, das in Sahul al-Ghallah [einem Getreidespeicher am Al-Maks-Hafen am Nil] vorhanden war, und befahl, es nur an die Müller zu verkaufen. Er regulierte die Preise für Weizen, Gerste und Holz. Er regulierte auch die Preise für alle anderen Getreidearten und Waren, peitschte eine Gruppe von Menschen aus und führte sie öffentlich vor. Die Bevölkerung beruhigte sich, als Brot zur Verfügung stand, aber später beeilten sie sich, es zu kaufen, so dass es am späten Abend nicht mehr verfügbar war. (…) Sie versammelten sich in Bayn al-Qasrayn, flehten [Kalif] al-Hakim an, für ihr Wohlergehen zu sorgen, und forderten ihn auf, ihre Angelegenheiten nicht zu vernachlässigen. Er bestieg seinen Esel und ritt durch das Bab al-Bahr. Dann blieb er stehen und sagte: „Ich werde zur Rashidah-Moschee gehen. Ich schwöre bei Gott, dass ich, wenn ich zurückkomme, wenn mein Esel einen einzigen Ort ohne Getreide betreten kann, jedem, der Getreide besitzt, den Kopf abschneiden werde. Ich werde sein Haus niederbrennen und sein Vermögen beschlagnahmen.“ Dann ging er und blieb bis zum späten Nachmittag. Jeder Einwohner von Fustat und Kairo, der über eine bestimmte Menge Getreide verfügte, beeilte sich, es aus seinem Haus oder Wohnsitz zu holen und auf den Straßen abzulegen. Die Gebühr für einen Esel erreichte einen Dinar für einen einzelnen Transport. Die Menschen waren überglücklich und erfreut. Al-Hakim ordnete an, dass die für den täglichen Verzehr benötigten Mengen von den Getreidehändlern bereitgestellt werden, wobei ihnen eine Nachfrist eingeräumt wurde und sie die Wahl hatten, Getreide zum offiziellen Preis zu verkaufen, der eine Gewinnspanne zu ihren Gunsten beinhaltete, oder dies zu verweigern. Wenn sie die zweite Alternative wählten, würde er die Mengen, die sie hielten, versiegeln und ihnen nicht erlauben, irgendeinen Teil davon zu verkaufen, bis die neuen Ernten verfügbar wären. Sie antworteten also auf seinen Ruf und folgten seinem Befehl. Die Preise gingen zurück und der Schaden wurde abgewendet. al-Maqrīzī, 31-33 (transl. Allouche) Schwankungen der Nilfluten im 13.-14. Jh. Aus: Chaney 2013 Aus: Campbell 2016 Nilschwankungen, Weizenpreise und politische Instabilität Eine niedrige Nilflut und eine Hungersnot 1373/1374 Während der Regierungszeit von Sultan al-Ashraf Shaʿbān (1363-1376) kam es zu einer Hungersnot. Es wurde durch das Versagen des Nils verursacht, seine Fülle im Jahr 776/1373-1374 zu erreichen: tatsächlich erreichte er nicht 16 Ellen. Der Kanal wurde geöffnet, wodurch der Wasserstand sank und die Preise stiegen. (…) Lebensmittel wurden knapp und waren selten verfügbar. So viele Menschen starben an Hunger, dass sie die Straßen füllten. Es folgte eine Epidemie, die weitere Todesfälle verursachte. (…) Der Sultan gab den Befehl, die Armen zu sammeln, die er unter den Kommandanten und den reichen Kaufleuten verteilte. Die Hungersnot dauerte ungefähr zwei Jahre; Gott sandte der Menschheit Beistand und ließ den Nil fließen, wodurch der Durst des Landes gestillt wurde. al-Maqrīzī (transl. Allouche, p. 49) Die Pest, der Zerfall des Bewässerungssystems, der demografischwirtschaftliche Niedergang Ägyptens im 14.-16. Jahrhundert und Landbesitzregelungen in Ägypten und in England im Vergleich? Stuart J. Borsch, The Black Death in Egypt and England. A Comparative Study, Austin 2005 – und seine Kritiker Anzahl der Haushalte in ausgewählten Bezirke im osmanischen Anatolien Die “Little Divergence” zwischen NW-Europa und dem Rest der Euro-Mediterranen Region “While the labour-scarce, high-wage environment prevailed in all regions of Europe and the eastern Mediterranean, the outcomes as reflected in changes in productivity varied greatly. It is worth restating why the outcomes turned out to be so different in response to the labour-scarce conditions. (…) The capacity to adjust to the new environment varied greatly across Europe. Countries or regions with more flexible structures and institutions adapted more readily to the changing conditions and changing relative prices. The rise of northwestern Europe was, at least in part, due to the fact it was able to develop a better response to this long-term environment. On the other hand, where the institutions were not sufficiently flexible or well developed, these productivity-enhancing changes were less likely to occur, as was the case in southern Europe, the eastern Mediterranean and the rest of the continent. (…) They also help us understand how and why economies of northwestern Europe emerged with higher wages at the beginning of the seventeenth century, and a little later with higher average incomes, in relation to the rest of the continent.” Ş. Pamuk, The Black Death and the origins of the ‘Great Divergence’ across Europe, 1300–1600. European Review of Economic History, 11 (2007), 289–317 Klimawandel, sozioökonomische Krise, Drachensichtung und das Ende der mongolischen Herrschaft in China 2010 Der Übergang von der mittelalterlichen Klimaanomalie zur Kleinen Eiszeit in den Proxy-Daten aus China H. Zhang et al., The Asian Summer Monsoon: Teleconnections and Forcing Mechanisms—A Review from Chinese Speleothem δ18O Records. Quaternary 2019, 2(3), 26; https://doi.org/10.3390/quat2030026 Neue Daten und der „Schwarze Tod“ in ganz Afro-Eurasien Extreme Ereignisse, Epidemien und der Zusammenbruch der mongolischen YuanHerrschaft in China, 1333-1368 Anstrengungen zur Katastrophenhilfe (huang zheng) der Yuan-Kaiser: Flüchtlinge aus der Steppe, Flut, Dürre und Seuche in China – und Papiergeld https://en.wikipedia.org/wiki/Jiaochao #/media/File:Yuan_dynasty_banknote_ with_its_printing_plate_1287.jpg Tana Li (2019). The Mongol Yuan Dynasty and the Climate, 1260– 1360. In Martin Bauch, Gerrit Jasper Schenk (Eds.), The Crisis of the 14th Century: Teleconnections between Environmental and Societal Change? (pp. 153–168). Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110660784-008 Der Rückzug der Yuan in die Mongolei und das neue Regime der Ming ab 1368 Kaiser Hongwu, 1368-1398 Die “Song-Yuan-Ming Transition” und die “Great Divergence” zwischen Westeuropa und China? From: L. Grinin, A. Korotayev, Great Divergence and Great Convergence. A Global Perspective. Heidelberg – New York 2015. “The anti-commercial policies of the early Ming state, coupled with its expropriation of the wealth of the Jiangnan elite, wreaked havoc on the flourishing market economy of the Jiangnan region and arrested the commercial and urban growth that had continued with little disruption throughout the era of Mongol rule. Commerce and industry foundered, hampered by mismanagement of the monetary system, a sharp decline in overseas trade, and a system of hereditary artisan households that impeded the rational allocation of labor. Urban population fell, and many market towns were abandoned. The economic malaise that resulted from the traumatic transition from Mongol to Ming rule persisted for more than a century.” R. von Glahn, The Economic History of China: From Antiquity to the Nineteenth Century. Cambridge 2016, p. 289 Die “Great Transition”, die “Great Divergence”, Quellen und Daten: was kann quantifiziert werden? Aus: C. Camenisch et al., The 1430s: a cold period of extraordinary internal climatevariability during the early Spörer Minimum with social andeconomic impacts in north-western and central Europe. Clim. Past 12 (2016), 2107–2126. Die “Great Transition”, die “Great Divergence”, Quellen und Daten: was kann quantifiziert werden? “At its core, this book challenges the fundamentals of the construction of ‘real wages’ across seven centuries and many countries of the world, and questions whether the sources and methodology currently used are capable of providing reasonably accurate knowledge of the welfare of populations of the past. (…) The study of historical living standards has been blighted by a widening gulf between the ability to process huge quantities of data and the quality of the data that are processed. Since the 1960s many fields of economic history have been revolutionised by ‘cliometrics’—the use of statistics, economic theory, econometric analysis and data processing—to marshal and interpret huge accumulations of data in order to resolve great historical questions. The cliometric revolution has always had over-enthusiastic promoters who have asserted that ‘what cannot be counted does not count’.” 2018 (John Hatcher and Judy Z. Stephenson, Introduction – especially also critical on St. N. Broadberry et al., British economic growth 1270-1870. Cambridge 2015.) Das Zusammenspiel von gesellschaftspolitischer und ökologischer Dynamik jenseits von Determinismus und „natürliche“ Ereignisse als soziale Prozesse (die ungleiche Lastenverteilung gesellschaftlicher Resilienz) A. Izdebski, L. Mordechai and S. White, The Social Burden of Resilience: A Historical Perspective. Human Ecology 2018, 46(3), 291–303: D. D. ZHANG – P. BRECKE, et al. Global climate change, war, and population decline in recent human history. Proceedings of the National Academy of Sciences 104/79 (2007) 19214–19219 Wie „ähnlich“ waren westeuropäische Gesellschaften, wie „anders“ waren andere Gesellschaften ?: räumliche Kontingenzen, Unterschiede und Zusammenhänge • “The Great Divergence within Western Europe: England versus France” (z. B. im 14.-15. Jh.) • “If capitalism first developed “contingently,” and then “geopolitically,” there is no reason for assuming that it was a universal point of departure or a necessary destination point in world history. As such there is no point in “privileging” certain regions/actors as the “bearers” of capitalism, or in supposing that similar developmental patterns occurred everywhere. And once history is freed from self-emerging and self-developing conceptions of capitalism, the non-Western world no longer appears as an “aberration” from or an imitation of a generically defined “Western European” path to capitalism. Indeed, a closer historical investigation shows that geopolitically mediated and historically specific social struggles led to different combinations of rule and property both within and between the West and the non-West. • Eren Duzgun, Property, Geopolitics, and Eurocentrism: The “Great Divergence” and the Ottoman Empire. Review of Radical Political Economics 2018, Vol. 50(1), pp. 24–43 Von der “Great Divergence” zur“Great Convergence” and anthropogener Klimawandel Willkommen im Anthropozän? 91 „Wann wurden wir zur geologischen Supermacht?“ 2018 92 Frühdatierungen des Beginns des Anthropozäns: 10.000 v. Chr. oder 1610 n. Chr. ? (Lewis/Maslin 2018) 93 https://www.climate-lab-book.ac.uk/2020/2019-years/ 94 Zeitliche Unterschiede der Ausprägung des globalen Klimatrends Neukom et al. (https://www.nature.com/articles/s41586-019-1401-2) 95 Quelle: www.munichre.com 96 https://www.oeaw.ac.at/byzanz/b yzanz-im-kontext/mobilitaet-undinterkulturellerkontakt/komplexitaet-undnetzwerke/ https://climatechangeandhistory.princeton.edu/ Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!