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Sündenböcke oder Brunnenvergifter? Antijüdische Verschwörungserzählungen in Antike und Mittelalter vor dem Schwarzen Tod 10.03.2021 , 18:30 - 20:00 Uhr Webinar, Jüdisches Institut für Erwachsenenbildung Praterstern 1 , 1020 Wien Dr. Johannes Preiser-Kapeller, ÖAW https://www.vhs.at/de/k/288558152 Die Ausbreitung der Cholera ab 1816 als erstes „globales pandemisches Ereignis“ Brigham, Amariah: A treatise on epidemic cholera; including an historical account of its origin and progress, to the present period. Compiled from the most authentic sources. Harford: Published by H. and F.J. Huntington 1832 Der Ausbruch des Tambora 1815 und das „Jahr ohne Sommer“ 1816 (vgl. Behringer 2016) 3 1816/1817 und die Verbreitung der Cholera von Indien in alle Welt Bakterium Vibrio cholerae Die Cholera im Wien des 19. Jh.s Cholera-, Typhus- und Pocken-Mortalität 1800-1900 in Wien (https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Cholera) John Snow (1813-1858) und seine „CholeraKarte“ für London 1854 Tagesrapport der Cholerakranken aus dem Polizeibezirk Stubenviertel vom 25. September 1831. „Kenntlichmachung der Häuser in denen Menschen der Cholera des Jahres 1855 zum Opfer fielen“ Der Beginn der modernen Epidemiemaßnahmen in Wien Verschwörungstheorien zur Cholera: Arsenvergiftung und Antisemitismus Die Hep-Hep-Krawalle in verschiedenen deutschen Staaten • „Es ist Zeit das Geschlecht der Christus-Mörder zu unterdrücken, damit sie nicht Herrscher werden über uns und unsere Nachkommen, denn stolz erhebt schon die Juden-Rotte ihre Häupter (…). Die Juden, die hier unter uns legen, die sich wie verzehrende Heuschrecken unter uns verbreiten, und die dem ganzen preussischen Christenthum mit Umsturz drohen, das sind Kinder derer die da schrien: kreuzige, kreuzige. Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sey Hepp! Hepp! Hepp! Aller Juden Tod und Verderben. Ihr müsst fliehen oder sterben.“ („Proclamation“ aus Preußen, 1819) Antijudaismus (=?) Antisemitismus • „substantialistische“ Erklärungen: Antisemitismus als „natürliches“ Phänomen aufgrund des „Wesens des Judentums“ (Ausgrenzung als Reaktion auf die Isolation der Juden vom Rest der Gesellschaft) • „funktionalistische“ Erklärungen: Entstehung von Judenhass und Judenverfolgung aus konkreten politischen (ökonomischen, sozialen) Konflikten 2020 März 2021, 2 Bände zu “Klima, Pandemien und dem Wandel der Alten Welt” in Altertum und Mittelalter, zusammen 830 Seiten https://www.mandelbaum.at/buecher/johann es-preiser-kapeller/die-erste-ernte-und-dergrosse-hunger/ https://www.mandelbaum.at/buecher/johann es-preiser-kapeller/der-lange-sommer-unddie-kleine-eiszeit/ Eine ägyptisch-griechische Umdeutung der Plagen aus dem Buch Exodus: die Juden und die Seuche im hellenistischen Ägypten um 300 v. Chr. „Als in alter Zeit über Ägypten eine pestilenzartige Krankheit ausbrach, führte die Mehrheit das Leiden auf ein Einwirken der Götter zurück. Da nämlich viele Fremde verschiedener Herkunft unter ihnen hausten, die, was Heiligtum und Opfer angeht, anderen Bräuchen nachgingen, hatte es sich ergeben, dass sich der althergebrachte Götterkult der Ägypter ausgelöst hatte. Deswegen glaubten die Einheimischen, dass es kein Ende der Leiden geben würde, ehe sie die Ausländer nicht fortschickten. Sogleich also wurden die Fremden verbannt, wobei die Angesehensten und Aktivsten zusammengetrieben, und wie einige sagten, nach Griechenland und in gewisse andere Regionen vertrieben wurden; sie hatten angesehen Anführer, unter denen Danaos und Kadmos als die herausragendsten galten. Die große Menge aber wurde in die Gegend vertrieben, die heute Judäa heißt, nicht weit von Ägypten entfernt liegt und zu jener Zeit vollkommen unbewohnt war. Die Kolonie wurde von einem Mann namens Mose angeführt, der bezüglich Verstand und Tapferkeit weit herausragte.“ (Hekataios von Abdera, um 300 v. Chr.; überliefert bei Diodorus Siculus, 1. Jh. v. Chr.; Übersetzung nach Schäfer 2010, 32) Ein möglicher historischer Hintergrund? (vgl. Manetho, 3. Jh. v. Chr. – ein König Amenophis vertreibt die „Aussätzigen und unreinen Menschen“) Die Göttin Sechmet („die Mächtige“), die „Herrin des Zitterns“ in Ägypten und Pharao Amenophis III. (1388-1351 v. Chr., 600 Statuen im Tempel der Mut in Karnak) Die Seuche im Reich der Hethiter unter König Muršili II. (1321-1294 v. Chr.) Der Weg der Seuche nach den Angaben des Muršili II. „Aber als die Kriegsgefangenen nach Hatti [unter seinem Vater Šuppiluliuma I.] zurückgeführt wurden, brach unter den Kriegsgefangenen eine Seuche aus (…). Als die Kriegsgefangenen nach Hatti verschleppt wurden, brachten die Kriegsgefangenen die Seuche nach Hatti. Von diesem Tag an starben Menschen in Hatti. (…) Diese Seuche wurde verursacht durch die Kriegsgefangenen, die aus ägyptischem Gebiet zurückgebracht wurden, und die zivilen Gefangenen, die zurückgebracht wurden.“ (Norrie 2016, 55) https://www.sciencedirect.com/science/article /abs/pii/S0306987707002411 Das Ritual des Uamuwa gegen die Seuche – der „Sündenbock“ So spricht Uamuwa, der Mann von Arzawa: Wenn im Land ständig gestorben wird und wenn ein Gott des Feindes es verursacht hat, dann mache ich Folgendes: Sie bringen einen Hammel herein und sie machen aus blaugefärbter Wolle, roter Wolle, gelbgrüner Wolle, schwarzer Wolle und weißer Wolle einen Kranz und sie umkränzen den Hammel und sie treiben den Hammel auf den Weg zum Feind weiter und sie sagen zu ihm (dem Gott) wie folgt: „Welcher Gott des Feindes hat diese Plage gemacht, jetzt haben wir diesen bekränzten Hammel zu dir gebracht, o Gott! So wie eine Festung stark ist und (noch) mit diesem Hammel in Frieden ist, mögest Du, Gott, der diese Pest verursacht hat, auf die gleiche Weise mit dem Land Hatti in Frieden sein. Wende dich wieder in Freundschaft dem Land Hatti zu. “ Dann treiben sie die den bekränzten Hammel in das feindliche Gebiet. (Zitiert nach Robertson 2010, 77) Die Auseinandersetzung der Juden mit dem krisengeschüttelten Seleukidenreich: die Makkabäeraufstände ab 168 v. Chr. Die „aussätzigen, fluchbeladenen, menschenfeindlichen“ Juden • „Sie sagten ihm (König Antiochos VII. Sidetes bei der Belagerung Jerusalems, 135/134 v. Chr.) auch, dass die Vorfahren der Juden gottlose, den Göttern verhasste Menschen gewesen seien, die man aus Ägypten verjagt hätte. Da sie weißen Ausschlag oder Aussatz gehabt hätten, seien sie um der Reinigung des Landes willen wie Fluchbeladene zusammengetrieben und über die Grenzen hinausgejagt worden. Diese Vertriebenen nun hätten die Gegend um Jerusalem besetzt, das Volk der Juden begründet und den Hass gegen die Menschen an ihre Nachkommen vererbt. Deswegen hätten sie auch ganz ausgefallene Bräuche eingeführt: Sie lehnten die Tischgemeinschaft mit jedem anderen Volke ab und begegneten auch jedem ausgesprochen ohne Wohlwollen.“ • (Diodorus Siculus 24/25, 1, 1. Jh. v. Chr.; Übersetzung nach Schäfer 2010, 41) Die angebliche Eselverehrung (onolatreia) der Juden (und frühen Christen) • „Antiochos IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.) habe (beim Eindringen in den Tempel in Jerusalem, 167 v. Chr.) im Allerheiligsten das steinerne Bild eines Mannes mit langem Bart gefunden, der auf einem Esel gesessen und in den Händen ein Buch gehalten habe. Der König nahm an, dass dies das Bild des Mose sei, der Gründers Jerusalems und der jüdischen Nation, der auch die menschenfeindlichen und unsittlichen Gewohnheiten für die Juden zum Gesetz erhoben habe.“ • (Diodorus Siculus 24/25, 1.3, 1. Jh. v. Chr.; Übersetzung nach Schäfer 2010, 91) „Alexamenos betet (seinen) Gott an.“ (Graffito vom Palatin, frühes 3. Jh. n. Chr.) Angebliche Menschenopfer und „Ritualmorde“ bei den Juden • „Antiochos IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.) habe im (Jerusalemer) Tempel ein Ruhebett gefunden, auf dem ein Mensch lag. Vor diesem habe ein mit Fleischgerichten, Seefischen und Geflügel besetzter Tisch gestanden (…). Er sei ein Grieche, und während er, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die Provinz durchzogen habe, sei er plötzlich von fremdstämmigen Menschen ergriffen, in einen Tempel geschleppt und hier eingesperrt worden. Dort wurde er von niemandem erblickt, aber dauernd mit Speisen gemästet. (…) Von einem Diener (…) habe er erfahren, dass es ein geheimes Gesetz der Juden gebe, dem zuliebe er genährt werde, und sie täten das jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit. Sie fingen nämlich einen durchreisenden Griechen, mästeten ihn ein Jahr lang, führten ihn dann in den Wald, schlachteten ihn, opferten seinen Leib nach ihrem Brauch, kosteten von seinen Eingeweiden und schwüren bei der Opferung des Griechen, die Feindschaft gegen die Griechen zu hegen. Dann würfen sie die Überreste des Umgekommenen in eine Grube.“ • (Joseph, Contra Apionem II, 91-96; Übersetzung zitiert nach Schäfer 2010, 95-96). Die weitere Tradierung dieser Narrative in der Auseinandersetzung mit Rom: der Jüdische Krieg und die Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem, 66-70 n. Chr. 21 Der „Diaspora-Aufstand“ gegen Kaiser Trajan, 115-117 n. Chr., der Bar-Kochba-Aufstand und das Ende des jüdischen Jerusalem (Aelia Capitolina; Syria Palaestina), 132-135 n. Chr. 22 Die angebliche jüdische Verehrung von Schweinen • „Kallistratos entwickelt ein langatmiges Argument, dass das Schwein in der Tat bei diesen Leuten (den Juden) eine Art von Verehrung genießt. (…) Es ist ihnen strikt verboten, Schweine zu töten, wie von ihrem Fleisch zu essen. Vielleicht ist es nur folgerichtig, dass sie, wie sie den Esel in Ehren halten (…) auch dem Schwein mit frommer Scheu begegnen.“ (Plutarchs Tischgespräche IV 5,2, um 110 n. Chr.; Übersetzung nach Schäfer 2010, 110-111) • „Der Jude, mag er auch seine Schweinegottheit anbeten und die höchsten Himmelsohren (des Esels) anrufen (…)“ (Spottgedicht des Petronius Arbiter, um 60 n. Chr.; Übersetzung nach Schäfer 2010, 117 bzw. Schäfer 2020, 35). Wiener Neustadt, Stadtmuseum - Relief einer "Judensau" ( 15. Jh.) Die Entstehung des Christentums und die Entfremdung vom Judentum Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von dem, was ihr in eurer Maßlosigkeit zusammengeraubt habt. (…) Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der Prophetenmörder seid. (…) Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen? (Mt 23, 25-33) Die Juden als vermeintliche „Mörder“ des Messias Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt? Da schrien sie alle: Ans Kreuz mit ihm! Er erwiderte: Was für ein Verbrechen hat er denn begangen? Da schrien sie noch lauter: Ans Kreuz mit ihm! Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache! Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! (Mt 27, 22-25) Religion und Heilung im krisengeschüttelten Imperium Romanum: die Ausbreitung des Christentums und die „Cyprianische Pest“ im 3. Jahrhundert Brief des Bischofs Dionysius von Alexandria (amt. 248264/265): „Auf jeden Fall haben die meisten Brüder durch ihre Liebe und brüderliche Zuneigung zu uns weder sich selbst verschont noch einander verlassen, sondern ohne Rücksicht auf ihre eigene Gefahr diejenigen besucht, die krank wurden, sich fleißig um sie gekümmert und ihnen gedient und fröhlich ihr Schicksal mit ihnen geteilt, bereitwillig, mit der Krankheit von ihnen angesteckt (…) zu werden. Nicht wenige starben auch selbst, nachdem sie andere wieder gesundgemacht hatten und übernahmen den Tod von ihnen (…). Auf jeden Fall hat eine erlesene Auswahl unserer Brüder auf diese Weise ihr Leben verloren, sowohl Priester als auch Diakone und einige hochgelobte unter den Laien, so dass diese Art des Sterbens nicht weit vom Martyrium entfernt zu sein scheint (…). Aber die Heiden verhielten sich ganz anders: Diejenigen, die anfingen krank zu werden, stießen sie weg, und ihre Liebsten flohen vor ihnen oder warfen sie halb tot auf die Straße: unbestattete Körper behandelten sie als abscheulichen Müll, denn sie versuchten die Ausbreitung (…) der tödlichen Krankheit zu vermeiden, obgleich es schwierig war, ihr trotz all ihrer Pläne zu entkommen.“ Zitiert nach Dionysius von Alexandria 1918, 71-72 Rechtliche Beschränkungen gegen die Juden im nun christlichen römischen Reich ab dem 4. Jh. • Verbot der Ehe christlicher Frauen mit Juden (339, 388) • Verbot des Besitzes christlicher Sklaven (339, mehrfach wiederholt) • Verbot des Übertritts vom Christentum zum Judentum (329, 353, 383) • 404 Ausschluss aus dem Dienst am Kaiserhof • 412 Garantie der körperlichen Unversehrtheit (unter Justinian wiederholt) • 415 Verbot des Neubaus von Synagogen (423 und 438 erneuert; archäolog. Befund belegt Wirkungslosigkeit in Palästina) • 418 Ausschluss aus der Armee (Westreich) • 429 Abschaffung des Patriarchats der Juden, aber Beibehaltung der Patriarchensteuer • 438 Ausschluss aus allen öffentlichen Ämtern (Ostreich) • 468 Beschränkung des Advokatenamtes auf Angehörige der christlichen Orthodoxie 27 Interesse und Ablehnung der „Kirchenväter“ Hieronymus (347-420) „Denn nicht einfach für Räuber und Diebesgesindel, sondern für Dämonen ist die Synagoge ein Unterschlupf, ja mehr, nicht nur die Synagogen sind das, sondern die Seelen selbst der Juden. (…) Mit Menschen also, sag mir, dämonenbesessenen, die so viele unreine Geister haben, die sich von Schlachtungen und Morden genährt haben, geht ihr zusammen und es schaudert euch nicht dabei? Muss man sie den grüßen und ganz normal mit ihnen reden, muss man sich nicht vielmehr von ihnen abwenden als von einer gemeinen Schande und Krankheit für die ganze Welt?“ (Johannes Chrysostomos in Antiochia, 386/387 n. Chr.) 28 Das Verbot der Gewalt gegen die Juden bei Augustinus (354-430) • Der gottlose Stamm der fleischlichen Juden wird nicht durch den körperlichen Tod zugrunde gehen. Denn wer immer die Juden auf diese Weise zerstört, wird siebenfacher Rache verfallen (…). Am Ende der sieben Tage der Weltzeit wird die fortgesetzte Bewahrung der Juden für die gläubigen Christen ein Beweis für die Unterwerfung derer, die (…) den Herrn hingerichtet haben. (Augustinus, Gegen die Manichäer 12, 12; Übersetzung nach Schäfer 2020, 94) 29 Rechtliche Verfügungen der Kirche • • • Bestimmungen gegen „judaisierende“ Bräuche (Ostertermin, Sabbat) Kanon 37 der Synode von Laodikeia (4. Jh.): Es ist nicht rechtens, Anteile (von den Festmählern) der Feste der Juden oder Häretiker zu erhalten, oder gemeinsam mit ihnen Festmahl zu halten. Kanon 11 des Trullanum (692): Niemand, der zum priesterlichen Stand gehört, oder irgendein Laie soll die ungesäuerten Brote von den Juden essen oder mit ihnen Gesellschaft pflegen oder sie in Krankheitsfällen zu sich rufen lassen und ärztliche Behandlung von ihnen empfangen oder überhaupt in Bädern mit ihnen gemeinsam baden. 30 Ein Kaiser aus einfachen Verhältnissen mit hohem Sendungsbewusstsein: Justinian I. (*482, 527-565; [San Vitale, Ravenna]) Justin I. (518-527) • • „Von Gott eingesetzt unser Reich lenken, das uns von der himmlischen Hoheit übergeben worden ist“ (Einleitung zu einem Gesetz des Justinian) 31 529: die Schließung der Akademie zu Athen und die „Vollendung“ der Christianisierung des Reiches (Gesetzgebung gegen Heiden, Juden, Samaritaner und „Ketzer“ > aktive Verfolgung) Platons Akademie, Mosaikfußboden in Pompeji 32 Gesetze des Kaisers Justinian I. und ihre „Vorbildungwirkung“ für das Mittelalter • 527: neuerlicher Ausschluss der Juden vom Staatsdienst und Militär sowie vom Unterricht an hohen Schulen • 537: Entzug der Standesprivilegien für jüdische Ratsherren in den Städten, aber Beibehaltung der steuerlichen Verpflichtungen • Einschränkung der Testierfähigkeit und des Zeugnisses vor Gericht • (auch für Heiden, Häretiker und Samaritaner) 33 Die „Justinianische Pest“ im Mittelmeerraum ab 541/542 35 www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1820447116 Der „Stammbaum“ der Pesterreger Z. Zhou u. a., The EnteroBase User’s Guide, with Case Studies on Salmonella Transmissions, Yersinia pestis Phylogeny, and Escherichia Core Genomic Diversity, in: Genome Research 30 (2020), 138-152. Ein Hotspot verschiedener Varianten von Yersinia pestis in der Qinghai-Region (NW-China, Tibet) 37 Klimaschwankungen und der Übergang von der Zoonose zur Pandemie Campbell 2016 38 Der Dust Veil von 536 und der Beginn der „Spätantiken Kleinen Eiszeit“ „Und in diesem Jahr ereignete sich ein furchtbarstes Vorzeichen. Denn ohne Strahlen, wie der Mond, verlor die Sonne das ganze Jahr hindurch ihren Glanz. Sie sah aus, als ob sie größtenteils verschwunden sei, da ihr Funkeln nicht rein und wie gewohnt war. Seitdem sich dies ereignet hatte, ließen weder Krieg noch Seuche noch anderes, was Tod bringt, von den Menschen ab.“ Prokop, Vandalenkriege 2, 14, 5-6 39 Mögliche Routen der Verbreitung der „Justinianischen Pest“ im 6. Jh. Aus: M. Keller et al., Ancient Yersinia pestis genomes provide no evidence for the origins or spread of the 40 Justinianic Plague. bioRxiv preprint first posted online Oct. 31, 2019; doi: http://dx.doi.org/10.1101/819698 Die Debatte über die demographischen Effekte der Justinianischen Pest 41 „Kein Verfahren (wurde) vom Menschen entdeckt, um sich selbst zu retten, so dass er entweder durch Vorsichtsmaßnahmen nicht leiden sollte oder dass er, wenn die Krankheit ihn ergriffen hatte, sie überstehen konnte. Denn das Leiden kam ohne Vorwarnung, und die Genesung war auf keine äußere Ursache zurückzuführen.“ „Anfänglich versuchten die Betroffenen, die Erscheinungen von sich abzuwehren, indem sie die heiligsten Namen anriefen und (…) die übrigen frommen Bräuche übten. Indes half ihnen dies gar nichts, da auch die Mehrzahl derer, die in den Kirchen Zuflucht suchten, sterben musste.“ Prokop (Perserkriege 2,22) Pestgeister, Dämonen (in Gestalt von Mönchen und Klerikern) und ihre Abwehr Der „kopflose“ Kaiser als Antichrist: Verschwörungserzählungen bei Prokop „Dies alles widerfuhr den Menschen, nachdem der Dämon Menschengestalt angenommen hatte, und er selber gab als Kaiser Veranlassung hierzu. Nun will ich aber schildern, was er mit heimlicher Macht und infolge seiner dämonischen Natur der Menschheit an Leiden zufügte. Während seiner Regierung über die Römer ereigneten sich viele nie gekannte Katastrophen, von denen die einen behaupteten, sie seien auf die Gegenwart und Wirksamkeit des bösen Dämons zurückzuführen, während andere der Auffassung waren, die Gottheit habe aus Zorn über seine Verbrechen sich vom Römerreich abgekehrt und das Land den verderblichen Dämonen ausgeliefert, damit sie auf solche Art ihr Spiel mit ihm trieben. (…) Der Nil stieg wie gewöhnlich, sank aber nicht zu den üblichen Zeiten. Dadurch fügte er (…) einigen Bewohnern schlimmen Schaden zu. (..) Erdbeben zerstörten Antiochia, die erste Stadt des Ostens, sowie Seleukeia, die Nachbarstadt, und das herrliche Anazarbos in Kilikien. Wer könnte die Zahl der Menschen angehen. die dabei zugrunde gingen? (…) Hinzu kam, wie schon früher erwähnt, die Pest; sie raffte etwa die Hälfte der restlichen Menschheit hinweg. So viele Menschen mussten sterben, während Justinian (…) die Kaiserwürde innehatte.“ (Prokop, Geheimgeschichte 18, 36–45; Übersetzung zitiert nach Meier 2003, 87) Kaiser Justinian, Mosaik in Sant'Apollinare Nuovo Neue Formen der Frömmigkeit, von Kaiser und Kirche gefördert (Hypapante – Mariä Lichtmess, 2. Februar) Ikone, Katharinenkloster Sinai, 6. Jh. (Maria mit Kind, Hl. Georg und Theodoros) Wunder des Hl. Sebastian in Rom während einer späteren Wiederkehr der Justinianischen Pest im Jahr 680 (Gemälde von Josse Lieferinxe, 1497) Papst Franziskus auf dem Petersplatz am 27. März 2020 und die Marienikone Salus populi Romani aus der Kirche Santa Maria Maggiore Die Randgruppen als „Sündenböcke“: Heiden, Juden, Häretiker, Homosexuelle – die justinianische Gesetzgebung und ihre „Vorbildwirkung“ (…) denn wegen solcher Vergehen kommt es zu Hunger, Erdbeben und Pest. (Gesetzesnovelle 141 des Kaisers Justinian I., 559) Die Verfolgung prominenter „Heiden“ während der Krisenjahre 545/546 • „In der Hauptstadt wurden prominente Personen gefunden, Professoren, Gelehrte, Rechtsanwälte und Ärzte, und sie wurden (als Heiden) enttarnt, nachdem sie sich unter der Folter gegenseitig denunziert hatten. Sie wurden verhaftet, gegeißelt und eingekerkert. (…) Ein adeliger und reicher Heide von ihnen, der Phokas hieß und den Rang eines Patriziers bekleidete, nahm, als er die Heftigkeit der Untersuchung sah (…), in der Nacht Gift und beendete so sein Leben. Als der Kaiser darüber informiert wurde, entschied er in sehr gerechter Weise und befahl, dass er bestattet werden sollte (…) ohne dass Menschen dabei waren oder irgendwelche Gebete für ihn gesprochen wurden.“ (Johannes von Ephesos, Übersetzung erstellt nach Pseudo-Dionysius of Tel-Mahre 1996, 71) Wasser- und Brotknappheit 562 und Übergriffe gegen Heiden samt Bücherverbrennungen in Konstantinopel/ 580 Gefängnissturm und Verbrennung der Angeklagten – Übergriffe auf Juden (Folter, Verbannungen, Mord) Goldmünze von Kaiser Tiberios I. (578-582) Die hochmittelalterliche Wachstumsperiode und der Anstieg der Zahl an jüdischen Gemeinden in Westeuropa, 10.-13. Jh. 50 Die Entstehung jüdischer Gemeinschaften im heutigen Österreich im 12.-13. Jh. 51 Kirchliche Bestimmungen zum Schutz und zur Beschränkung der Juden „Juden und Sarazenen beiderlei Geschlechts in jeder christlichen Provinz und zu allen Zeiten sollen in den Augen der Öffentlichkeit durch die Art ihrer Kleidung von anderen Völkern unterschieden sein.“ Kanon 68 des 4. Laterankonzils 1215 52 Kaiserlicher und landesherrschaftlicher Schutz und die Juden als Einnahme- und Kreditquelle – das Judenprivileg Herzog Friedrichs II. von Österreich, 1244 Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, I. Innsbruck 2005, Nr. 25. 53 Die Kreuzzüge, wiederholte Übergriffe auf Juden und klimatisch bedingte Krisenzeiten (cf. Ph. Slavin, 2010) 54 Wetterextreme, sozioökonomische Krisen, Pest und Judenverfolgungen, 1100-1800 Risiko steigt von 2 % auf 3-3,5 % (Verfolgung alle 50 Jahre > 29 Jahre); Einfluss von landwirtschaftlicher Kapazität und Stärke (und Willen) staatlicher Autoritäten Robert Warren Anderson, Noel D. Johnson and Mark Koyama, Jewish Persecutions and Weather Shocks 55 1100-1800. The Economic Journal, August 2016 (DOI: 10.1111/ecoj.12331) Neue (alte) Vorwürfe: Ritualmorde – erstmals belegt für Norwich 1144 Darstellung des angeblichen Ritualmords an Simon von Trient im Jahr 1475 56 Kaiserlicher Erlass von 1236 gegen die Ermordung der Juden in Fulda nach einem angeblichen Ritualmord Weder im Alten noch im Neuen Testament ist zu finden, dass die Juden nach Menschenblut begierig wären. Im Gegenteil, sie hüten sich vor den Befleckung durch jegliches Blut. (…) Es spricht auch eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass diejenigen, denen sogar das Blut erlaubter Tiere verboten ist, keinen Durst nach Menschenblut haben können. (Übersetzung nach Schäfer 2020, 145). Die Synagoge in Fulda vor ihrer Zerstörung 1938 Neue Vorwürfe: Hostienschändung – erstmals belegt für Paris 1290 Holzschnitt von 1478 mit der Bildfolge eines angeblichen Hostienfrevels durch Passauer Juden. 58 Der Übergang von der Mittelalterlichen Warmzeit zur Kleinen Eiszeit im 13.-15. Jh. Campbell 2016 Campbell 2016 59 Der Ausbruch des Samalas, die Notjahre 1257/1258 und die ersten Geißler „Der Nordwind herrschte mehrere Monate lang vor, und als April, Mai und ein Großteil des Monats Juni vorüber waren, erschien kaum eine kleine seltene Blume oder ein schießender Keim (…). Unzählige arme Menschen starben, und ihre Körper wurden aus Mangel angeschwollen aufgefunden, fünf oder sechs zusammen. Die Seuche war unerträglich. Sie griff besonders die Armen an. Allein in London kamen 15 000 arme Menschen ums Leben. In England und anderswo starben Tausende. Der Adel verteilte an bestimmten Tagen in London Brot. (…) Die Reichen entkamen dem Tod nur durch den Kauf von ausländischem Getreide.“ (Zitiert nach Lavigne u. a. 2013) 60 Pax Mongolica und „Globalisierung“ Campbell 2016 61 Globale Epidemien: Viehseuchen Campbell 2016 62 Der Ritualmordvorwurf von Krems, 1293, die angebliche Hostienschändung in Laa, 1294, die Verbrennung der Jüdin Hanna in Salzburg 1298 (lt. Nürnberger Memorbuch) – die Wetterextreme der Jahre 1293-1295 Gozzoburg, Krems 63 Die angeblichen Hostienschändungen in Korneuburg 1305, in St. Pölten und in Wien 1306 – die Untersuchung durch Ambrosius von Heiligenkreuz („De actis Judaeorum sub duce Rudolfo“) und die Bestrafung durch Herzog Rudolf III. Extremsommer 1304 und 1305 Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, I. Innsbruck 2005, Nr. 133/135/145/146/147. 64 Angebliche Hostienschändung in Fürstenfeld 1312 und Verfolgungen in der Steiermark und in Kärnten Propter hoc ipsi judei in Stiria et in Karinthia fere omnes fuerunt interempti, quidam igne, quidam autem ferro. Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, I. Innsbruck 2005, Nr. 188. Campbell 2016 65 Die angebliche Hostienschändung in Pulkau und die Verfolgung der Juden, ab Ostern 1338 (maximum exterminium factum est iudeorum) – Untersuchung im Auftrag von Papst Benedikt XII. Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, I. Innsbruck 2005, Nr. 434-436, 442-443. 66 Der „Hirtenkreuzzug“ in Frankreich 1320/1321 und seine Folgen bis 1323: die angebliche Vergiftung der Brunnen und das Konstrukt einer muslimisch-jüdischen Verschwörung unter Einbeziehung der Leprakranken 67 Klimaveränderung und das Risiko einer Pestepidemie: der Übergang zur Kleinen Eiszeit im 13.-14. Jh. Campbell 2016 68 Von der Zoonose zur Pandemie, von Zentralasien in „alle Welt“ https://www.medievalacademy.org/page/webinars Campbell 2016 69 Globale Epidemien: der Schwarze Tod und seine Wiederkehr bis ins 17./19. Jh. Aus: Benedictow, 2004 70 Wetterextreme, sozioökonomische Krisen, Pest und Judenverfolgungen, 1100-1800 Risiko steigt von 2 % auf 3-3,5 % (Verfolgung alle 50 Jahre > 29 Jahre); Einfluss von landwirtschaftlicher Kapazität und Stärke (und Willen) staatlicher Autoritäten Robert Warren Anderson, Noel D. Johnson and Mark Koyama, Jewish Persecutions and Weather Shocks 71 1100-1800. The Economic Journal, August 2016 (DOI: 10.1111/ecoj.12331) Pogrom (14. Februar 1349, 2000 Opfer), Geißler (8. Juli 1349) und Pest (Juli) in Straßburg Judenpogrom in Straßburg 1349 (Émile Schweitzer, 1894) 72 Verbote von Papst Clemens VI. (13421352) gegen Geißler und Judenmorde 73 Die Pestpogrome im Jahr 1349 im heutigen Österreich („quibusdam pulveribus toxicassent“) Vgl. Eveline Brugger/Birgit Wiedl, Regesten zur Geschichte der Juden in Österreich im Mittelalter, II. Innsbruck 2010, Nr. 646. 74 Verschwörungsspekulationen in Zeiten der Krise und Pandemie „Die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven, alle zwang es, auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn ein Kennzeichen anzubringen. Kaufen oder verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen trug: den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens. Hier braucht man Kenntnis. Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tieres. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist 666.“ Offb 13,16-18 75 Antisemitismus und Verschwörungswahn in Zeiten von Corona In Straßenbahn in Köln Anfang Februar 2021 verteilte Handzettel (https://www.juedische-allgemeine.de/unserewoche/antisemitische-handzettel-in-der-strassenbahn/) Postings von einem social mediaaccount von Attila Hildmann, Anfang März 2021 76 https://www.volksverpetzer.de/analyse/attila-antisemitismus/ http://rapp.univie.ac.at/ http://climatechangeandhistory.princeton.edu Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit! 77