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Fotostrecke

Woodstock an der Ostsee: Regen, Randale, Rocker

Foto: Arno Freudenhammer/neumünster-fotos.de

Fehmarn-Festival 1970 Schlammbad mit Jimi Hendrix

Deutschlands Woodstock endete in knietiefem Schlamm, Prügelorgien und brennenden Bauwagen. Fast hätte das Lebensgefühl der Blumenkinder die deutsche Provinz nicht erreicht - da geschah beim Auftritt des Gitarrengotts ein Wunder. Karl-Heinz Körner erinnert sich an das legendäre Fehmarn-Festival 1970 und den Aufbruch seiner Generation.

Es sollte unser Woodstock werden: das große Rockfestival auf Fehmarn im September 1970. Die berühmtesten Bands der Zeit sollten dort auftreten, vor allem aber Jimi Hendrix, der Gitarren-Gott. Unser Idol würde tatsächlich nach Deutschland, auf eine traurige Ostseeinsel kommen und uns mit seiner Musik zum Teil jener weltumspannenden Jugendbewegung machen, die auf der Suche war nach einem anderen, neuen Leben!

Denn das waren wir: Auf der Suche nach jenem Glücksgefühl, von dem uns eine Ahnung beschlich, wenn wir diese Musik hörten. Oder im Kino die Bilder vom Woodstock-Festival ein Jahr zuvor, im Sommer 1969, sahen: fröhliche, junge, glückliche Menschen voller Hoffnung. Seit ich im einestages-Magazin ein Foto von Hendrix sah, versuche ich meiner Erinnerung zu entlocken, wie es war und was es war, das für uns 18-, 19-Jährige damals so viel bedeutete. Das Bild zeigt ihn an einer Bushaltestelle am Hamburger Hauptbahnhof auf dem Weg nach Fehmarn, als ganz normaler Fahrgast - ein Foto, das viel von unserem Lebensgefühl damals heraufbeschwört.

Hendrix hatte in Woodstock gespielt, jenem rauschhaften Fest, bei dem sich eine halbe Million Menschen von naiven Blumenkindern bis hin zu politischen Aktivisten der freien Liebe und der Musik hingegeben hatten wie noch niemals zuvor. In Woodstock hatte die Jugend Amerikas ihren Traum von einem anderen Amerika ausgelebt und dem Establishment, das für Rassendiskriminierung und Vietnamkrieg stand, die Stirn geboten. Hendrix war es gewesen, der auf der Bühne von Woodstock die amerikanische Nationalhymne "Star Spangled Banner" durch grotesk verzerrte Akkorden und jaulende Töne zerschredderte, die Melodie in die quälenden Schreie von Luftangriffen, Bombenhagel und Sirenengeheul verwandelte.

Fluchtpunkt Kopenhagen

Würde das Fehmarn-Festival uns ähnliche Erlebnisse bringen? Erst am zweiten Festivaltag, einem Sonnabend, machten mein Freund Reinhard und ich uns auf aus unserem 800-Seelen-Dorf; wir wollten ja in erster Linie Hendrix sehen, der am Abend auftreten sollte. Natürlich versuchten unsere Eltern, uns abzuhalten. Im Radio war über Prügeleien zwischen Ordnern und Gästen berichtet worden: Rocker hatten sich den Veranstaltern als Ordnungskräfte aufgedrängt und gingen mit den Besuchern auf ihre Weise um. Aber uns hielt nichts zuhause, auch nicht der graue Himmel und der Dauerregen. Also los, mit Reinhards Mini-Cooper. Er hatte einen Mini, auf dem Dorfe! Die ganzen Umstände - das schreckliche Wetter und auch der Veranstaltungsort -verhießen nichts Gutes. Fehmarn, unser Woodstock? Ich mochte diese platte Insel nicht besonders. Reines Bauernland, fast ohne Baumbestand, kaum schöne Strände - irgendwie unwirtlich das Ganze. Andererseits war Fehmarn in diesen Jahren auch immer das Sprungbrett gewesen in jene Welt, die uns schon Eindrücke dessen verschaffte, wonach wir auf der Suche waren: über die neue, leuchtende Fehmarnsund-Brücke, schnell über die Insel auf die Fähre nach Dänemark und in die Stadt ungeahnter Freiheiten: Kopenhagen.

Kopenhagen war, neben Amsterdam, für uns Suchende der Fluchtpunkt aus der Enge und der Spießigkeit, die uns in Deutschland, gerade auf dem Lande, umgab. In Kopenhagen atmete man ein anderes Lebensgefühl. Im legendären Club "Revolution" sahen wir Keith Emerson von The Nice, der seiner Orgel die unglaublichsten Töne entlockte und sein Instrument schon mal mit dem Messer bearbeitete. Oder wir zogen ins "Dansetten" im Vergnügungspark Tivoli, das bis heute existiert. Zur Musik bekannter Bands hotteten wir bis weit nach Mitternacht. Am Tag ging es an den Strand nach Klampenborg und seinen blonden, langbeinigen Däninnen. Eine hieß Sanne.

Unter der Plane im prasselnden Regen

Diesmal allerdings waren wir auf der Vogelfluglinie nicht unterwegs in die dänische Hauptstadt, und es war auch nichts zu sehen vom leuchtenden nordischen Sommersonnenlicht, das wir so liebten. Im Dauerregen und bei immer düsterer werdendem Himmel näherten wir uns der Fehmarnsundbrücke, die sich hell gegen den beinahe schwarzen Himmel abhob. Gleich dahinter verließen wir die Vogelfluglinie und bogen ab in Richtung Flügge, dem kleinen Kaff im Südwesten Fehmarns, wo das Festival stattfand.

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Woodstock an der Ostsee: Regen, Randale, Rocker

Foto: Arno Freudenhammer/neumünster-fotos.de

Die Straßen und Zufahrtswege zum Gelände waren links wie rechts zugeparkt. Also steuerten wir eine der zu Parkplätzen erklärten Wiesen in unmittelbarer Nähe des Festivalgeländes anzusteuern, auch wenn das einige D-Mark kostete. Laufen mussten wir dennoch ein gutes Stück, denn die näher am Gelände gelegenen Wiesen waren schon lange vollgeparkt. Immerhin kamen wir ohne Ärger an den Ordnern vorbei, sie waren sogar ganz freundlich. Mit nichts als einer Plane über dem Kopf bahnten wir uns den Weg durch den Regen, umkurvten riesige Pfützen und übersprangen die kleineren. Trotzdem schwappte bald das Wasser in unseren Schuhen.

Näher als ein paar hundert Meter kamen wir nicht an die Bühne heran. Das Gelände vor uns war übersät mit Zelten; die Frühangekommenen hatten bühnennahe Claims abgesteckt, die uns den Weg versperrten. Völlig durchnässt kauerten wir uns auf den Boden und versuchten angestrengt, den Musikfetzen zu lauschen, die der Wind her- und wieder fortfegte. Über allem lag das Prasseln des Regens auf unsere Plane.

Das Wunder von Fehmarn

So lauschten wir angestrengt Canned Heat und dann Sly and the Family Stone. Beide Bands waren auch in Woodstock dabei gewesen waren - aber Woodstock-Stimmung wollte nicht einmal ansatzweise aufkommen. In unseren klammen Klamotten hielt uns bald nur noch eins halbwegs bei Laune: die Erwartung des Auftritts von Jimi Hendrix.

Der allerdings wurde verschoben und wiederum verschoben - schließlich gar auf den nächsten Festivaltag. Die deutsche Band Thrice Mice schenkten wir uns. Todmüde, nass, hungrig und frierend machten wir uns auf den Rückweg zum Auto. Die Versorgung war katastrophal, und wir hatten nur zwei Familienflaschen Cola und ein paar Konserven aus Reinhards Bundeswehrbeständen dabei. Zusammengerollt wie Embryonen versuchten wir in Reinhards Mini etwas Schlaf zu finden, der eine vorn, der andere hinten.

Schon ziemlich früh am Morgen trotteten wir wieder Richtung Festivalgelände. Diesmal kamen wir etwas näher an die Bühne heran, und bald war auch klar, dass unser Held tatsächlich auftreten würde. Und dann geschah das Wunder von Fehmarn: Jimi Hendrix bestieg die Bühne - und nach zweieinhalb Tagen Sturm und Dauerregen brach die Sonne durch die schwarze Wolkenwand. Es war, als hätte ein überirdischer Zeremonienmeister diesen Moment ins rechte Licht setzen wollen, als richte der große Beleuchter im Himmel noch ein letztes Mal den Hauptscheinwerfer auf diesen einzigartigen Musiker. Dass es Hendrix' letztes Konzert sein sollte und Jimi zwei Wochen später tot sein würde - das ahnte in diesem Moment niemand.

Ein beklommenes Gefühl

Hendrix' Auftritt verfolgten wir gebannt. Mehr als anderthalb Stunden lang spielte er: "Hey Joe", "Voodoo Chile" oder "Purple Haze", aber nicht nur seine Megahits. Jimis Gitarrenstil war einmalig. Indem er Akkordfolgen und Melodien in schnellem Wechsel und beinahe gleichzeitig spielte, machte er einen Rhythmusgitarristen überflüssig und übernahm einfach beide Parts, Solo und Rhythmus, in einer Person. Das machte den Klang seines Spiels unverwechselbar. Es war ein langer, ein großartiger Auftritt. Das Warten hatte sich trotz allem gelohnt.

Anschließend traten noch einige deutsche Bands auf, die britischen Bluesrocker Ten Years After dann schon nicht mehr, und auch sonst keine der noch angekündigten Bands. Denn inzwischen war durchgesickert, dass sich die Veranstalter in Anbetracht des zu erwartenden finanziellen Fiaskos - statt der erwarteten Hunderttausende waren nur knapp 40.000 Zuschauer gekommen - mit den bescheidenen Einnahmen auf und davon gemacht hatten. Mittags stand der Bauwagen, der als Organisationsbüro gedient hatte, in Flammen, in Brand gesetzt von den ebenfalls leer ausgegangenen Rockern vom Ordnungsdienst.

Wir bugsierten den Mini irgendwie von unserer Schlammwiese auf den festen Untergrund eines Sträßchens und machten uns auf den Heimweg in Richtung Festland. Ein beklommenes Gefühl beherrschte uns; durchnässt, verdreckt und schweigsam saßen wir während der Fahrt nebeneinander. Das war nicht "unser Woodstock" gewesen, nicht die fröhliche Feier unseres Lebensgefühls unter Gleichgesinnten, es war kein Fest der Sinne geworden. Im Grunde hatten wir nichts richtig so genießen können. Wann spielt endlich Hendrix, damit wir es hinter uns haben - solche Gedanken hatten uns beherrscht und nur deshalb hatten wir in Schlamm und Regen ausgeharrt.

Abschied von der Unbeschwertheit

Immerhin hatten wir unser Idol leibhaftig erlebt. Zwei Wochen später starb Jimi Hendrix in einem Londoner Hotelzimmer und reihte sich ein in die Phalanx der früh verstorbenen Rockheroen - Brian Jones von den Stones war schon ein Jahr zuvor in einem Swimmingpool ertrunken, Janis Joplin und Jim Morrison, der Sänger der Doors, folgten bald darauf. Sie alle hatten unsere kollektive Sinnsuche mit ihrer Musik befeuert, aber ihre Grenzen nicht erkannt, als sie den Rausch ihrer Kreativität mit Drogen noch verstärken wollten.

Für uns war mit dem verregneten Festival von Fehmarn und mit Hendrix' Tod das Unbeschwerte, das Unbekümmerte unseres aufkeimenden Lebensgefühls dahin. Es war eine Zäsur. Es folgten die rationalen Siebziger. Alles wurde irgendwie politischer.

Nicht wenige stiegen aus dem geordneten Bürgerleben aus. Andere, sehr wenige, verloren sich im Terrorismus und bescherte uns allen den langen, bleiernen Deutschen Herbst. Die meisten von uns begaben sich mit ihren Hoffnungen auf den langen und oft beschwerlichen "Marsch durch die Institutionen". Wir erlernten Berufe, fanden einen Lebensunterhalt, entdeckten den Genuss im Kleinen und engagierten uns - mal mehr, mal weniger -, bekamen Kinder. Wir ordneten uns ein. Was blieb von unserem Lebensgefühl von damals?

Meine Töchter Carla und Olivia sind 11 und 7 Jahre alt. Carla lernt Keyboard, und bei den Ausgrabungen in meiner eigenen Vergangenheit spielte ich ihr auf YouTube Stücke von Keith Emerson vor. "Der spielt ja toll!", war Carlas Reaktion, "Aber den Schlagzeuger, den finde ich auch super!" Ich gab ihr diesen Text zu lesen. "Papa, ein paar Wörter, die du benutzt, kenne ich nicht", sagte sie mir. "Aber ich finde es gut, dass du deine Gefühle einbringst." Und so bleibt doch etwas. Etwas von unserem Traum von mehr Freiheit und Ungezwungenheit ist wahr geworden, hat Dinge verändert, hat unsere Kinder anders, freier, selbständiger werden lassen über die Generationen. Und: Sich erinnern lohnt sich.