Jeder fünfte lebt in Armut

Laut Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes waren in Deutschland im Jahr 2023 gut 17,7 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind 21,2 % der Bevölkerung, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt.

Von „erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen“ waren 2023 danach 5,7 Millionen Menschen, was 6,9 Prozent der Bevölkerung entspricht. Der Alltag dieser Gruppe ist „aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln deutlich eingeschränkt“. Betroffene konnten ihre Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen nicht bezahlen – und weder eine Woche verreisen, alte Möbel ersetzen noch einmal monatlich auswärts essen. Gegenüber dem Vorjahr sind die Werte nahezu unverändert.

Dazu kommt, dass diejenigen, die ohnehin schon nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, zusätzlich schikaniert werden: Die Bundesagentur für Arbeit teilte mit, dass sie 2023 mehr erwerbsfähigen Beziehern des Bürgergeldes die Leistung gekürzt hat. In den meisten Fällen nicht deshalb, weil Arbeitsangebote abgelehnt worden sind, sondern weil man Vorladungen zum Jobcenter nicht nachgekommen ist. Mit 226.008 Minderungen stieg die Zahl gegenüber dem Vorjahr um 77.520. Betroffen waren insgesamt 128.415 Menschen, woraus sich ableitet, dass es etliche Mehrfachbetroffene gegeben hat.

Helmut Angelbeck ist gestorben

Helmut Angelbeck, Mitbegründer der legendären GALIDA (Gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative Darmstadt), ist am 12. April im Alter von 68 Jahren an Krebs gestorben. Er war einer der engagiertesten, kompromisslosesten und kreativsten (und erfolgreichsten) Streiter für die Rechte von Benachteiligten in der Region. Wir veröffentlichen hier den Nachruf, den sein Mitstreiter Bastian Ripper verfasst hat.

Helmut Angelbeck, „Darmstadts erster und einziger hauptberuflicher Arbeitsloser“ (Darmstädter Echo), bei einer GALIDA-Aktion.

Unser Nachbar, Vereinsaktiver und Freund Helmut Angelbeck ist tot. Ich möchte heute zurückblicken auf einen solidarischen Menschen, der sich große Teile seines Lebens für die Rechte von erwerbslosen und armen Menschen eingesetzt hat: Kämpferisch. Solidarisch. Humorvoll.

Helmut und ich lernten uns im Jahr 1997 kennen, als die Proteste französischer Erwerbsloser für ihre Rechte auch die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland beeinflussten. Als junger aktivistischer Linker war ich hiervon begeistert. Gemeinsam mit anderen Mitstreitern gründeten wir Anfang 1998 die GALIDA – Gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative Darmstadt, die anders als ihr Name es vorgeben mag, stets vollkommen unabhängig und unbeeinflusst von den offiziellen DGB-Strukturen war. Auch wenn sich das zahlreiche DGB-Offizielle in den zwanzig Jahren der Existenz der GALIDA sicherlich oftmals anders gewünscht haben 😉. Helmut war von Anbeginn der GALIDA ihr Sprecher. Dafür brauchte es keine Wahl. Er brachte hierfür so viele persönliche Kompetenzen mit, dass sich diese Frage niemals stellte.

Helmut war ein echter „Typ“ mit Ecken und Kanten, wie sie in der heutigen glattgeschliffenen Welt leider immer seltener vorkommen. Er konnte rhetorisch ganz großartig poltern und komplexe Zusammenhänge in kurzen und knappen Sätzen gekonnt auf den Punkt bringen. In den zahlreichen Aktionen der unglaublich agilen GALIDA-Truppe stampfte er so manchen Behördenleiter oder Chef einer ausbeuterischen Zeitarbeits-Firma verbal in den Boden. Er gab den bis dorthin in der öffentlichen Wahrnehmung in Darmstadt nicht vorkommenden Arbeitslosen ein Gesicht, trat konsequent für deren Rechte ein. Hunderte von Erwerbslosen wurden von ihm kostenfrei und erfolgreich für die Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber dem Arbeitsamt beraten.

An dieser Stelle könnten so viele kleine Geschichten von erfolgreicher, konkreter Gegenwehr im Alltag erzählt werden: Einer der Grundsätze der GALIDA war, dass alle Gruppenmitglieder unter dem Schutz der Gruppe stehen. Wurde ein einzelner durch behördliche Schikanen oder im Vorstellungsgespräch bei einer der damals (weit vor Mindestlohn-Zeiten) zahlreichen miesen kleinen Zeitarbeitsfirmen schlecht behandelt, erfolgte postwendend eine Antwort der gesamten Gruppe.

In zahlreichen Fällen reichte bereits die persönliche Begleitung von Helmut aus, dass sich Dinge wie von alleine erledigten: Ein Zahnarzt wollte einer Mitstreiterin für das wochenlange „Probeputzen“ in seiner Praxis keinen Lohn auszahlen. Er machte das dann in sofort und in bar, als Helmut und die GALIDA lautstark in seiner Praxis auftraten. Ein Chef einer kleinen Zeitarbeitsfirma schikanierte GALIDA-Aktive bei vom Jobcenter erzwungenen Bewerbungen zu miesen Bedingungen: Nach unserer von Helmut angeführten direkten Aktion in den Räumen der Firma gab es zukünftig keine Probleme mehr…

Als die FDP Erwerbslosen "spätrömische Dekanzenz" vorgeworfen hat, stürmten Angelbeck und römische GALIDA-Legionäre das Darmstädter FDP-Büro, um dort eine dekadente Orgie zu feiern.
Als die FDP Erwerbslosen „spätrömische Dekanzenz“ vorgeworfen hat, stürmten Angelbeck und römische GALIDA-Legionäre das Darmstädter FDP-Büro, um dort eine dekadente Orgie zu feiern.

Helmut konnte erfrischend kompromisslos und kämpferisch sein, wenn Menschen von starken Systemen an die Wand gedrückt und deren Rechte mit Füßen getreten wurden. Und tatsächlich konnte er und seine GALIDA-Aktiven in vielen Punkten viele Veränderungen erreichen. Die Einführung des Darmstädter Sozialtickets für Bus und Bahn für Erwerbslose ist nur einer dieser Erfolge.

Als sich die GALIDA nach zwanzigjährigen Wirken 2018 auflöste, blieb Helmut weiter aktiv. Zusammen mit mir und weiteren Nachbarn war er von Anbeginn Aktiver von Zusammen in der Postsiedlung e.V., in der die solidarische Nachbarschaft im Fokus des Handelns stand. Hier blieb er bis zuletzt aktiv.

Wir verlieren mit Helmut einen Menschen, der in seinem solidarischen Wirken und Handeln nicht zu ersetzen ist. Er hinterlässt eine große Lücke. Wir haben Jahrzehnte zusammen unter einem Dach gelebt. Zusammen gekämpft, gelacht, Erfolge und Niederlagen geteilt, gestritten. Helmut – Du fehlst!

Mehr Infos zu Helmut und den Galida-Aktivitäten findet ihr hier.

Gnade statt Recht?

Zur Diskussion über schwarze Löcher durch schwarze Nullen

Wenn Verantwortliche in einem Unternehmen 17 Milliarden Euro in den Sand setzen, werden sie gefeuert. Wenn Minister der Bundesregierung 17 Milliarden in den Sand setzen, versuchen sie die Verluste auszugleichen, indem sie diejenigen zu bestehlen versuchen, die eh schon nicht genug zum Leben haben. Mit diesen Worten kann man die derzeitige Diskussion über das Milliardenloch im Bundeshaushalt zusammenfassen.

Mit der Forderung, einfach mal freihändig das Bürgergeld zu kürzen, erwecken Vertreter von CDU und FDP den Eindruck, die Höhe des Bürgergeldes sei nicht gesetzlich festgelegt, sondern eine Art Taschengeld, das nach Gutdünken gewährt oder verweigert werden oder auf einen Betrag reduziert werden kann, mit dem man am Stammtisch in bierseliger Runde noch Wählerstimmen gewinnen kann. „Gnadenbrot statt Rechtsanspruch“, das ist die Leitlinie, nach der Erwerbslose, Migranten, Obdachlose und Bezieher von Grundsicherung zurzeit behandelt werden.

Ganz und gar widerwärtig finden wir die Diskussion über eine Verschiebung der Kindergrundsicherung. Laut der erst kürzlich vom Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlichten Studie „Kinderarmut inmitten von Wohlstand“ leben hierzulande inzwischen drei Millionen Kinder in Armut. Und die aktuelle PISA-Studie hat gerade wieder festgestellt, dass Jugendliche in Deutschland in allen Kompetenzbereichen auf die niedrigsten Werte abgefallen sind, die von PISA je gemessen wurden. Wobei Kinder aus finanzschwachen Haushalten zudem 111 Punkte hinter anderen Kindern liegen.

Kindergrundsicherung und Bürgergeld zu niedrig

Die Höhe der Kindergrundsicherung ist schon in der ursprünglich beschlossenen Variante zu niedrig. Ebenso wie das Bürgergeld, das zwar von 502 auf 563 Euro angehoben werden soll, nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aber mindestens bei 813 Euro liegen müsste, um den Menschen die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen.

Der immer wieder geforderte „Lohnabstand“ kann auch anders eingehalten werden, als Erwerbslosen verfassungsmäßig zustehende Leistungen zu verweigern. Zum Beispiel dadurch, Niedriglöhne so anzuheben, dass Berufstätige nicht zusätzlich Bürgergeld beantragen müssen. Rund 30% der Bürgergeld-Bezieher sind heute schon sogenannte Aufstocker – also Menschen, deren Lohn trotz Arbeit nicht zum Leben reicht.

Die Forderung, Menschen in Arbeit zu bringen, statt sie mit Steuergeldern zu alimentieren, finden wir allerdings grundsätzlich sinnvoll. Vorzugsweise diejenigen, die steuerfinanzierte Diäten kassieren und sich mit populistischem Geplapper auf Kosten der Ärmsten zu profilieren versuchen. Eine sinnvolle Tätigkeit, beispielsweise in der Pflege, würde ihnen guttun. Dann wüssten sie künftig wenigstens, wovon sie reden.

Andere Wege, 7.12.23