In den vergangenen Jahren gelang es jedoch, die Geschichte einiger Häftlinge zu erforschen, was es ermöglichte, mehreren Inschriften ein »Gesicht« zu geben.
Askold Kurow wurde am 13. Januar 1926 in Likino Dulowo im Raum Moskau geboren. Als Sechzehnjähriger wurde er im Oktober 1942 mit zahlreichen anderen Jugendlichen in einem Zug mit mehr als 1000 Personen unmittelbar nach Köln verschleppt. Hier war er bei der »Bauhilfe Barackenbau« als Zwangsarbeiter eingesetzt und half beim Bau von Baracken für ausgebombte Kölner. Interniert war er zunächst im Zwangsarbeiterlager Bensberger Marktweg in Köln-Dellbrück und danach im Deutzer Messelager. Dort erhielt er als »Ostarbeiter« die Nummer 483. Im Messelager beging er kleinere Sabotageakte, traf sich mit Nazi-Gegnern und plünderte aus Postpaketen Lebensmittel und Waffen. Nach einem Fluchtversuch wurde er in Duisburg gefasst und dort in ein »Arbeitserziehungslager« eingewiesen. Von dort floh er zurück nach Köln, wo er zunächst in ausgebombten Häusern lebte und sich später unter falschem Namen wieder ins Messelager aufnehmen ließ. Im Messelager lernte er seine spätere Ehefrau Vera Sergejewa kennen, eine 22-jährige junge Frau aus Kokand in Usbekistan, die im selben Zug wie Askold Kurow nach Köln gebracht worden war. Infolge einer Denunziation wurde Askold Kurow am 24.Dezember 1944 von der Gestapo verhaftet und im Gestapogefängnis EL-DE-Haus inhaftiert. Mitte Februar 1945 gelang ihm auf abenteuerliche Weise die Flucht aus dem EL-DE-Haus: Er war im Tiefkeller eingesetzt, um Akten zu transportieren. Als der wachhabende Gestapobeamte durch das Klingeln des Telefons ins Gefängnis gerufen wurde, konnte Askold Kurow über den Heizungskeller, der sich über beide Stockwerke erstreckt, fliehen, weil an dieser Stelle die Fenster nicht vergittert waren. Es gelang ihm, ins Bergische zu entkommen und dort Vera wiederzutreffen. Nach der Befreiung floh er im September 1945 aus dem Displaced Persons Camp in die Sowjetische Besatzungszone. Nach der Rückkehr in die Sowjetunion musste er zunächst vier Monate in einem Arbeitsbataillon im Ural verbringen, weil er der Kollaboration (Zusammenarbeit mit den Deutschen) beschuldigt wurde. Erst im April 1946 konnte Askold Kurow in seine Heimat zurückkehren. Er heiratete Vera und siedelte nach Kokand über. Askold Kurow ist am 3. Juli 2000 in Naginsk gestorben.
Die 25-jährige Französin Marinette war 1944 ihrem Freund nach Deutschland gefolgt. Sie arbeitete als Hausmädchen in einer deutschen Familie, die zu den Gegnern der Nationalsozialisten zählte. Von deren Verhaftung im Dezember 1944 war auch Marinette betroffen, die in Zelle 3 des Gestapogefängnisses inhaftiert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war sie im achten Monat schwanger. Zur Entbindung wurde Marinette in das Krankenhaus der Augusterinnen im Severinsviertel gebracht. Acht Tage nach der Geburt der Tochter Christiane am 12.Januar 1945 musste Marinette in das Gestapogefängnis zurückkehren, von der kleinen Tochter getrennt, die bei Nonnen untergebracht wurde. In ihren besonders ausführlichen und zahlreichen Inschriften berichtet sie von ihrem Schicksal. 1987 wurde anlässlich einer Recherche für einen Film in französischen Zeitungen über die Inschriften von Marinette berichtet. Es meldeten sich daraufhin die Töchter von Marinette. Christiane hatte erst als 17-Jährige von ihrer Mutter erfahren, dass sie in Köln geboren wurde, jedoch bis 1987 nichts von der Gestapohaft ihrer Mutter gewusst. Marinette hatte überlebt, doch die Erinnerungen an die Gestapohaft waren so schmerzhaft, dass sie darüber nicht sprechen wollte.
Teofila (genannt Tola) Turska wurde am 25.Mai 1924 in Baronowicze in Polen geboren. Anfang 1942 wurde sie bei einer Straßenrazzia in Warschau verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Zunächst arbeitete sie bei einem Bauern in Burscheid und seit Ende 1943 in der Maschinenfabrik Goetze- Werke in Opladen, zuerst als Arbeiterin an einer Drehmaschine, dann nach einem Arbeitsunfall als Dolmetscherin. Tola Turska kam zufälligerweise in Kontakt zur »Fähnrich-Organisation«, einer Widerstandsgruppe polnischer (Unter-) Offiziere. Ihr Freund Leonard, genannt Lolek, Kedzierski wirkte in dieser Untergrundorganisation mit. Bei seiner Verhaftung wurde ein Foto von Tola Turska gefunden. Daraufhin wurde sie am 5.Mai 1944 ebenfalls verhaftet. Nachdem sie vom Sonderkommando Bethke in Brauweiler verhört und gefoltert wurde, verbrachte Tola zunächst mehrere Wochen in Zelle 4 des Gestapogefängnisses im EL-DE-Haus in Einzelhaft und wurde dann bis Ende September 1944 in Zelle 2 verlegt, in der zeitweilig über 15 Frauen leben mussten. Daraufhin wurde Tola Turska ins Messelager Deutz überstellt, von da aus ins Konzentrationslager Ravensbrück und schließlich nach dessen Auflösung bis zum Mai 1945 ins Konzentrationslager Mauthausen verlegt. Tola hat überlebt. Nach der Rückkehr nach Polen arbeitete sie lange als Krankenschwester. Tola Turska, verwitwete Knorowska, starb 2002 in Sopot.
Gertrud Kühlem wurde am 1. Juni 1924 in Köln geboren. Der Vater, von Beruf Kesselschmied, und die Mutter, von Beruf Apothekerin, waren aktive Kommunisten. Wegen seiner Widerstandstätigkeit wurde der Vater mehrfach verhaftet und in das Konzentrationslager Esterwegen eingewiesen, wo er ermordet wurde. Gertrud Kühlem gehörte schon als Schulkind der kommunistischen Jugendorganisation »Rote Pioniere« an. Über die Naturfreunde kam sie zur bündischen Jugend. Dort führte sie den Spitznamen »Mucki«. Im Gegensatz zu Drill und Uniformität der HJ versuchte die bündische Jugend, eine eigene Lebensform zu verwirklichen: durch eine buntere Kleidung, etwas längere Haare, das Singen von Liedern auf Ausflügen, die an jedem Wochenende ins Oberbergische oder ins Siebengebirge unternommen wurden. Zu den Liedern zählten »In Junkers Kneipe«, »Hohe Tannen« oder »Endlose Straßen, gleißende Bahnen«. Ein Teil der Gruppe diskutierte aber auch politisch. »Mucki« verteilte zudem politische Flugblätter und beteiligte sich an Aktionen; so war sie dabei, als in Ehrenfeld Parolen wie »Keine Waffen für den Krieg« auf Züge gemalt wurden. 1941 und 1944 wurde sie verhaftet und jeweils für mehrere Tage im Gestapogefängnis im EL-DE-Haus eingesperrt und brutal verhört. Danach kam sie für insgesamt neun Monate in das Konzentrationslager Brauweiler. Auch nach der Haft nahm sie weiter an Fahrten teil und verteilte Flugblätter. »Mucki« traf sich auch mit den Ehrenfelder Edelweißpiraten. Die öffentliche Hinrichtung einiger von ihnen am 10.November 1944 hat sie zufälligerweise als Passantin mit ansehen müssen. Sie hat überlebt, weil man ihr nichts nachweisen konnte. »Mucki« lebt in Köln.
Hans Weinsheimer wurde am 15.August 1928 in Köln geboren. Sein Vater Johann Weinsheimer war in einer kommunistischen Widerstandsgruppe in Köln-Poll aktiv, die Flugblätter herstellte und verbreitete. Hans half dabei, die Flugblätter zu verteilen oder an Bunkern oder Bäumen zu befestigen. Im Deutzer Bunker wurde er Anfang 1944 verhaftet und ins Gestapogefängnis gebracht, doch bei seiner Verhaftung hatte er glücklicherweise keine Flugblätter dabei. Hans pflegte auch Verbindungen zur bündischen Jugend und zu den Edelweißpiraten. Wegen der Teilnahme an einer Fahrt der bündischen Jugend war er bereits Ende 1943 verhaftet und für zwei Tage im Gestapogefängnis inhaftiert worden. 1944, bei seiner zweiten Verhaftung, wurde er nach einer vier- bis sechswöchigen Haft im EL-DE-Haus für einige Tage nach Brauweiler gebracht und wiederholt verhört, ohne dass die Gestapobeamten etwas ermitteln konnten. Dennoch kam er von Brauweiler in das Zucht haus Butzbach, wo er bis kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner bleiben musste. Insgesamt war der damals 15/16- Jährige fast ein Jahr in Haft, obwohl man ihm das Verteilen der Flugblätter nicht nachweisen konnte. Hans Weinsheimer starb am 30.Mai 1990 in Köln. Über den Hintergrund der von ihm überlieferten Inschrift in Zelle 1 berichtet Hans Folgendes: »Meine Mutter kam immer jeden Abend, so zwischen neun und zehn Uhr. Da klopfte sie an das Fenster – die wusste genau, wo ich saß. Und da sagten die anderen schon: ›Da Hans, Deine Mutter ist da.‹ Man konnte durch das Fenster miteinander sprechen. Es waren ja zwei Fenster und an dem vorderen Fenster war an der Seite ein Loch drin. Manchmal gab meine Mutter auch Butterbrote ab. Das dauerte dann so zehn Minuten bis zur Viertelstunde, dann wurde die Tür aufgemacht. – ›Weinsheimer!‹ – ›Ja.‹ – ›Ihre Mutter war da, die hat Ihnen ein paar Butterbrote gebracht.‹ Dann kriegte ich die.«