The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20140408230011/http://www.theodor-heuss-stiftung.de/theodor-heuss-preis-2013/rede-roger-de-weck.html
 
 
Preisrede an der Verleihung des 48. Theodor Heuss Preises

20. April 2013, Stuttgart
Roger de Weck, Publizist, Zürich

Wäre er ein paar Jahre früher geboren worden, niemand würde Daniel Cohn-Bendits Namen kennen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre er eines der Millionen namenloser Opfer der deutschen Vernichtungsdiktatur geworden, und der Gedanke an die im Kern unerträgliche Gnade der späten Geburt mag ihn bis heute quälen. Als Cohn-Bendit geboren wurde, starben nach wie vor Menschen in Konzentrationslagern und war Auschwitz eben erst befreit worden. Sein reiches Leben begann am Ende der Shoah. Am 4. April 1945 kam er auf die Welt, und fünf Monate noch sollte der Zweite Weltkrieg währen. Der Preisträger ist ein Kriegskind. Doch welche Lehren zogen Westeuropa und die Bundesrepublik aus der Katastrophe? Zwei Lehren - nämlich soziale Marktwirtschaft, also Rücksicht auf die Schwächeren. Und europäische Einigung, also Rücksicht auf die Nachbarn. Zwei epochale Errungenschaften und in ihrer Verknüpfung eine beispiellose zivilisatorische Leistung. Cohn-Bendit zählt zu denen, die dieses unseren Kontinent zivilisierende Werk fortgeführt haben. Mit vielen anderen bemüht er sich um den Ausbau der sozialen Marktwirtschaft zur ökosozialen Marktwirtschaft. Wie andere auch hat er sich in den Dienst der Europäischen Union gestellt, auf dass sie wirklich und nicht bloss dem Namen nach zu einer demokratischen Union der Europäerinnen und Europäer gedeihe.

 

Ende 1993 trat der Maastrichter Vertrag in Kraft und entstand diese Union. Wenig später wurde Cohn-Bendit ins Europa-Parlament gewählt: das erste Mal als Kandidat der deutschen Grünen, das zweite Mal 1999 als Bewerber der französischen Grünen, dann 2004 wieder für die deutschen Grünen, und 2009 abermals in Frankreich als grüner Spitzenkandidat. Das ist einzigartig, davor kann man sich nur verneigen, vor allem ist es zukunftsweisend.

 

Zu Zeiten der Revolutionen in Amerika und Frankreich war die Nation der Hort der Demokratie, doch in der heutigen Globalisierung beginnen rein nationale Demokratien zu erodieren: Immer dringlicher bedarf es auch transnationaler Demokratie, um den Primat der Politik über die transnationale Wirtschaft zu behaupten, um die transnationalen Märkte zu ordnen und bürgernah die transnationalen Probleme anzugehen, wo doch die Nation für viele kleine Aufgaben zu gross und für viele grosse Aufgaben zu klein ist. Cohn-Bendit verkörpert die Anfänge einer gelebten transnationalen Demokratie.

 

Er kam in Montauban auf die Welt, im französischen Südwesten, seine Eltern waren 1933 nach dem Reichtagsbrand von Deutschland nach Frankreich vor den nationalsozialistischen Judenhassern geflüchtet. Zwischendurch war der junge Cohn-Bendit staatenlos, bevor er nach Deutschland wechselte, Deutscher wurde, um Mitte der 1960er Jahre als Student der Mathematik und bald der Soziologie nach Frankreich zurückzukehren - worauf aber sein Geburtsland ihn noch vor dem Ende des historischen Monats Mai 1968 auf Geheiss von Charles de Gaulle auswies und ihm während eines Jahrzehnts die Einreise verweigerte. Als er ausgegrenzt wurde, wie ihn andere heute wieder ausgrenzen möchten, gingen mehr als 100'000 Franzosen auf die Strasse, um ihre Solidarität mit einem Deutschen zu bekunden, ein Unikum in der Geschichte. Sie skandierten: „Nous sommes tous un juif allemand. Wir sind alle ein deutscher Jude", und das mag einer der glücklichsten, flüchtigen Augenblicke europäischer Geschichte gewesen sein. Daniel Cohn-Bendits Leben ist ein virtuoses Hin und Her über den Rhein, zwischen den beiden Welten, die sich nach sinnlosen, zahllosen Kriegen zwar versöhnt haben, aber sich nie ganz finden, weswegen sie im Wortsinn auf Querdenker oder präziser formuliert auf Überquerdenker wie Cohn-Bendit angewiesen sind.

 

Das deutsch-französische Paar, das sich derzeit eher abnutzt, bleibt ein Gegensatzpaar. Deutsch-französische Freundschaft ist eine Herausforderung nicht nur im Politischen, auch im Kulturellen. Bereits die Sprachen bergen den Kontrast zwischen beiden Weltanschauungen. Wir sagen auf Deutsch: Stillleben; auf Französisch: nature morte. Wir sagen auf Deutsch die Säugetiere - aus der Perspektive des Kinds, das an der Mutterbrust saugt; und auf Französisch les mammifères - „brüstetragend", aus der Perspektive der Mutter, die das Kind stillt. Im journalistischen Beruf, den Cohn-Bendit nebenbei ausübt, ist er in Deutschland ein Moderator, der alles dämpft, und in Frankreich un animateur, der die Diskussion beseelt. Letzteres passt besser zu Cohn-Bendit, in ihm ist viel Seele.

 

Aber tatsächlich, schon in der Sprache ist zwischen Deutschland und Frankreich ein konträres Verständnis von Politik angelegt. Das Deutsche mit dem Passivum und Neutrum eröffnet eine andere politische Sicht als das Französische mit dem kräftigen kartesianischen Ego.

 

Auf Deutsch sagen wir: Mir ist bewusst geworden - irgendwie ist mir das Bewusstsein gekommen. Wohingegen der Franzose verfügt: J'ai pris conscience - entschlossen habe ich Bewusstsein erlangt, aktiv, das Subjekt steht im Vordergrund. Und das drückt den für Deutsche etwas befremdlichen französischen Voluntarismus aus, wohingegen die deutsche Satzbildung mit dem Passivum und Neutrum das in sich birgt, was wir „Rahmenbedingungen" nennen: Rahmenbedingungen, die uns gesetzt werden und als deren Objekt wir allzu Gefügige sind. Ein im deutschen Sprachraum abslolut evidenter Begriff, der für Franzosen absolut unbegreiflich ist und wofür die französische Sprache im Übrigen auch gar kein Wort hat.

 

Europäische Demokratie gestalten anhand grundverschiedener Politikbegriffe? Das erfordert Reflexion des eigenen Veständnisses von Politik statt ihrer Verabsolutierung; ohnehin kann die Kenntnis der entgegengesetzten Denkweise die eigene Politik nur bereichern. Europa braucht Politiker, Intellektuelle, Medienleute (und gleich zweisprachig ist Cohn-Bendit politisch, intellektuell und medial): Europa braucht Persönlichkeiten, die quer durch die Denksysteme denken, statt sich im Kreis zu drehen in bornierten Mentalitäten nationaler Prägung, ja als Gefangene der eigenen Mentalität. Gerade die Bundesrepublik erweist sich derzeit in Europas Krise keinen Dienst, wenn sie zusehends zum schulterklopfenden, selbstgerechten und selbstgenügsamen Chauvinismus neigt, der im Grunde nichts anderes ist als der vorweggenommene Verzicht, die südeuropäischen Partner überhaupt begreifen zu wollen, es wenigstens zu versuchen. Das ist keine Alternative für Deutschland.

 

Wie die langwierige Ausländerintegration ist auch die europäische Integration gleichermassen kulturell und politisch. Und auch dies verkörpert Daniel Cohn-Bendit, der langjährige ehrenamtliche Dezernent für Multikulturelles, der in Frankfurt am Main ein gewähltes konsultatives Parlament für die in der Stadt lebenden Zuwanderer unterstützte. Die „Kommunale Ausländer- und Ausländerinnen-Vertretung in Frankfurt am Main", wie sie offiziell heisst und 1991 entstand, soll laut Satzung  „die Teilnahme der ausländischen Einwohner am gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben fördern". Ein winziger Schritt auf dem langen Weg zum kommunalen Wahlrecht für alle. Vor Jahrzehnten schon, meine Damen und Herren, begann Cohn-Bendits pragmatische Suche nach „neuen Wegen in der Demokratie", jenem Anliegen, das uns heute zusammenführt.

 

Wie wir dank Churchill wissen, ist Demokratie die schlechteste Staatsform ausser allen anderen. Und zur guten Demokratie gehören auch Debattenbeiträge höchst unterschiedlicher Qualität. Genau diesen Umstand illustriert die demokratische, legitime Diskussion der vergangenen Wochen über den Preis und den Preisträger. Doch nach all den Kriminaltaten in Kirche und Odenwald und Internet ist der Hintergrund der Debatte zu ernst und viel zu bedrückend, um als Kulisse für politische Machtkämpfe zu taugen. Verzeihen Sie folgende Binsenwahrheiten, liebe Freunde unserer Theodor-Heuss-Stifttung, aber was sind die eigentlichen Massstäbe einer demokratischen Auseinandersetzung? Harte und auch härteste Kritik: Ja, unbedingt! Polemik: Ja, sie kann wohltuend sein. Unsachliche, ungerechte Kritik: Naja, sie ist seit je wohl unvermeidlich. Verleumdung aber: Nein! Die Grenze verläuft dort, wo die Einwürfe und Anwürfe in keiner Weise mehr erkenntnisorientiert sind, nicht einmal einer besseren Aufarbeitung dienen, sondern den Citoyen Cohn-Bendit verächtlich machen möchten. In vielen westlichen Demokratien ist zu beobachten, wie der Hass salonfähig wird. Es wirkt das Tea Party-Prinzip: Der Widersacher gerät zum Feind, den man demütigen darf und zu stigmatisieren trachtet. In den Vereinigten Staaten von Amerika geht es je länger, desto weniger darum zu argumentieren und zu überzeugen, als vielmehr um den Versuch, das andere „Lager" zu diskreditieren. Gewinnt dieses Prinzip nun in Europa wieder an Boden?

 

Den öffentlichen Diskurs, auf den die Demokratie angewiesen ist und der den Grossteil ihres Wesens ausmacht, sieht Jürgen Habermas als eine Kommunikation, in der „kein Zwang ausser dem des besseren Arguments ausgeübt wird". Das Internet seinerseits ist sowohl ein unbeschwertes demokratisches Forum als auch öffentlicher Stammtisch. Wir erleben im Internet-Zeitalter einen weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit, oder genauer besehen: Es gibt mittlerweile gleichsam zwei Öffentlichkeiten - einerseits den herkömmlichen öffentlichen Raum, in dem vorwiegend Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Intellektuelle und Medienleute das Wort führen, wobei ebendieser Medienbetrieb ein eher grobkörniges Bild davon vermittelt, wenigstens aber bestrebt ist, Informationen und Argumente journalistisch-kritisch zu prüfen, zu analysieren, einzuordnen, zu gewichten und zu erläutern. Anderseits den weitgehend zügel- und regellosen öffentlichen Raum, der sich in den Blogs des Internets eröffnet, und in welchem von vornherein die sanfte Gewalt des besseren Arguments keine Chance hat. In diesem zweiten öffentlichen Raum ist erlaubt, was im ersten öffentlichen Raum tabu bleibt, und die Schwarmintelligenz kann sehr wohl dem Herdentrieb ähneln. Der Streit um den Theodor-Heuss-Preis beleuchtet also auch die Frage nach den Formen demokratischer Auseinandersetzung im Internet-Zeitalter, wenn sich der öffentliche Raum spaltet und der zweite Raum - der Freiraum der Blogger-Emotionen - massiv auf den ersten Raum einwirkt, der seit der Aufklärung einigermassen der Ratio verpflichtet ist.

 

In der heutigen digitalen Gesellschaft wie zuvor in der untergehenden analogen Gesellschaft ist es Cohn-Bendits Schicksal, auf beispiellose Weise in seiner Person fast alles zu bündeln, was seit seinem Geburtsjahr 1945 Zeitgeschichte ausmacht: Weltkrieg und Shoah, die deutsch-französische Versöhnung und den europäischen Gedanken, den 68er Aufbruch mit Dany Le Rouge und das Aufstreben des Ökologischen mit Dany Le Vert, das Sponti-Mässige und das Realpolitische, das militant Pazifistische und das Militärische, das Multikulturelle und irgendwie auch das Postmoderne, nicht zuletzt die raumgreifende Mediengesellschaft, vom einstigen „Pflasterstrand" über den von Cohn-Bendit authentisch-glänzend moderierten Literaturclub des Schweizer Fernsehens oder den Sportjournalismus bis hin zum fast schon eingespielten Shit Storm dieser Tage im Internet.

 

Cohn-Bendit, der sich etwas gewandelt und stark verändert hat, lässt sich hinwiederum nicht beirren. Gerade weil er grundlegend umzudenken fähig ist, sich nicht nur kritisch äussert, sondern trotz seines mächtigen kartesianischen Egos immer auch selbstkritisch ist, leistet Cohn-Bendit für den demokratischen Diskurs Beispielhaftes. Der einstige Antiparlamentarier wurde zum eingefleischten Volksvertreter, der Vertreter der APO avancierte jungbleibend zu einem Doyen des Europaparlaments, das dank Demokraten wie ihm Jahr für Jahr an Kraft und Kontur gewinnt.

1994 kam er nach Strassburg und Brüssel, 2014 will er gehen. Zwanzig Jahre des Gestaltungswillens ohne Exekutivamt, schrieb doch Habermas: „Diskurse herrschen nicht. Sie erzeugen eine kommunikative Macht, die die administrative (...) nur beeinflussen kann." Zwei Jahrzehnte der Laune und Lust an der europäischen Demokratie, und das ist sehr wohl auch ein Erbe der 68er Jahre, die heute gemäss dem altbekannten Pendelschlag der Geschichte vorübergehend schlechtgemacht werden, so wie die 68er selbst die Generation ihrer Väter wahrlich sehr pauschal schmähten. Der 68er Revolte wohnte sowohl Antidemokratisches inne als auch das Antiautoritäre, auf das die Demokratie angewiesen ist. Bei allen Irrungen und Wirrungen von 68, bei aller persönlich-politischen Verirrung und mancher Verfehlung von 68er Exponenten, aber auch ihrer autoritären Widersacher wie General de Gaulle, der zu einer gelenkten Demokratie neigte - es ist ein epochemachendes Paradox und eine Cohn-Benditsche Ironie der Geschichte, dass das antiparlamentarische '68 schliesslich den Parlamentarismus belebt hat, die Demokratie vorangebracht und nach und nach politische Kräfte wie die Grünen hervorgebracht hat, die in Europa wie hier in der Bundesrepublik das Demokratische bereichern und festigen - nicht zuletzt auch deshalb, weil sie weit über Stuttgart 21 hinaus für stärkere Ansätze direkter Demokratie eintreten, was unserem Internet-Zeitalter der Interaktion durchaus entspricht.

 

Mit dem Internet erleben wir heute eine Zäsur, die tiefer ist als im Jahr 1450 die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Damals begann das Informationszeitalter. Nachdem Martin Luther seine 95 Thesen am Tor der Wittenberger Schlosskirche angeschlagen hatte, waren sie gedruckt in ganz Deutschland zu lesen. Mit dem Buchdruck einher gingen die Reformation, die Aufklärung, später die bürgerlichen Revolutionen in Amerika und Frankreich. Jetzt erleben wir nun aber den Wechsel vom Informations- zum Interaktionszeitalter: Als Bürgerinnen und Bürger haben wir dank des Internets mehr Ausdrucksmöglichkeiten, aber wegen der zunehmenden Distanz zur Politik, wegen des faktischen Primats der Wirtschaft und der wachsenden Ohnmacht nationaler Demokratien tendenziell weniger Einwirkungsmöglichkeiten. Mehr Ausdrucksmöglichkeiten, weniger Einwirkungsmöglichkeiten: Das birgt eine Hochspannung, die sich früher oder später entladen dürfte. Arabiens demokratischer Frühling, den Twitter und Facebook mit beflügelten, mag sich als Vorbote von Umwälzungen auch in der westlichen Welt erweisen. Die Demokratie jedenfalls darf nicht stillstehen, ihre Zukunft beruht auf Demokraten, die neue Wege wagen, um mehr Demokratie zu wagen. Einer der Waghalsigen ist Cohn-Bendit, und auf diesen Demokraten ist auch künftig zu zählen. Der Theodor-Heuss-Preis ehrt einen grossen Demokraten, einen Citoyen und einen Menschen. Er ist Mensch - das ist in der jüdischen Tradition, und hoffentlich nicht nur in der jüdischen Tradition, das grösste Kompliment überhaupt, das man einem Menschen machen kann.

 

© R. de Weck 2013