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Deutschland Jürgen Trittin

Mit dem „Veggie Day“ gegen Drogenhandel im Stall

Jürgen Trittin Jürgen Trittin
Jürgen Trittin wurde am 25. Juli 1954 in Bremen geboren. Er studierte in Göttingen Sozialwissenschaften und gehörte als Kommunist der Hausbesetzerszene an. 1980 wechselte er zu den... Grünen. Fünf Jahre später wurde er Fraktionschef im Niedersächsischen Landtag, 1996 Chef der Bundespartei. In der rot-grünen Bundesregierung brachte er als Umweltminister den Atomausstieg auf den Weg. In einer Urwahl entschied sich die Partei im vorigen Jahr, den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion zusammen mit Katrin Göring-Eckardt zum Spitzenkandidaten zu machen. Er lebt mit Partnerin Angelika Büter zusammen
Quelle: Martin U. K. Lengemann (2)
„Ich bin Verfassungspatriot“: Interview mit Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin über grüne Verbote, die dunklen Gründungsjahre seiner Partei und die Wahrscheinlichkeit von Rot-Rot-Grün.

Seine Partei könnte bei der Bundestagswahl das Zünglein an der Waage werden, und Jürgen Trittin gibt sich Mühe, die Karten bedeckt zu halten. Ganz offen spricht der Spitzenkandidat im Café „Sarah Wiener“ an der Spree über sein Verhältnis zu Deutschland – und verteidigt den Plan, in deutschen Kantinen einen fleischfreien Tag einzuführen. Trittin hält es für die Pflicht der Grünen, die Gesellschaft zu verändern. Auch über Verbote.

Welt am Sonntag: Herr Trittin, sind Sie Patriot?

Jürgen Trittin: Ich bin Verfassungspatriot.

Welt am Sonntag: Was ist Deutschland für Sie?

Trittin: Das Land, in dem ich geboren bin und lebe.

Welt am Sonntag: Warum tun sich viele Grüne so schwer, sich zu Deutschland zu bekennen?

Trittin: Ich sehe nicht, dass wir uns damit schwertun. Warum auch. Unser Wahlprogramm trägt die Überschrift: Deutschland ist erneuerbar. Für die meisten ist Deutschland ein biografischer Zufall. Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich weiß nicht, ob man sich großartig zu Deutschland bekennen muss. Ich finde, man soll in diesem Land anständig leben, man soll die Verfassungsordnung respektieren und sich am Gelingen dieses Gemeinwesens nach Kräften beteiligen. Das Tun ist wichtiger als das Bekennen.

Welt am Sonntag: Sind Sie stolz auf dieses Land?

Trittin: Meine Oma hat gesagt: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz. Aber ich freue mich darüber, was wir in diesem Land erreicht haben. Ich komme aus einer Generation, die sich sehr heftig mit der Geschichte auseinandergesetzt hat, auch der Geschichte der eigenen Väter. Wenn ich mich heute umgucke in Europa, ist Deutschland fast das einzige Land, in dem es keine rechtspopulistische parlamentsfähige Partei gibt. Das ist kein Anlass zu Selbstzufriedenheit, denn wir haben auch heute viel zu viele Nazis in diesem Land. Aber ich freue mich, dass wir es bisher geschafft haben, uns von dieser Heimsuchung europäischer Politik freizuhalten. Man kann über dieses Deutschland etwas ganz Erfreuliches sagen: Es ist in der Mitte Europas ein weltoffenes, tolerantes und rechtsstaatliches Land. Ich würde sagen: Ich lebe gerne in Deutschland.

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Welt am Sonntag: Wenn Sie sich Deutschland als Schiff vorstellen – was für ein Schiff wäre das?

Trittin: Eine schwergängige Küstenbarkasse. Wenn man umsteuern will, braucht man eine Weile.

Welt am Sonntag: Welche Rolle haben die Grünen auf diesem Schiff?

Trittin: Wir haben sehr viel verändert. Die Grünen haben in der Lotsenfunktion eine wichtige Rolle gespielt.

Welt am Sonntag: Woran würde man es merken, wenn die Grünen über Bord gingen?

Trittin: Schlingerkurs, Schiffbruch, Ölpest. Aber das wird nicht passieren. Wir regieren in den Bundesländern fast 50 Millionen Deutsche.

Welt am Sonntag: Es gäbe keine Vegetariertage in der Kombüse.

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Trittin: Ohne die Grünen gäbe es nicht die Praxis, dass bei Staatsempfängen die Lebenspartnerinnen und Lebenspartner von Schwulen und Lesben völlig selbstverständlich mit eingeladen werden. Ohne die Grünen würden wir nicht aus der Atomkraft aussteigen. Und ohne die Grünen würde niemand über die klimaschädliche, unsoziale, gesundheitsgefährdende und teure Fleischproduktion reden. Es schärft das Bewusstsein und erweitert die Speisekarte, wenn wir in öffentlichen Kantinen einen Tag haben, an dem man sich fleischlos ernähren kann.

Welt am Sonntag: Ist es die Aufgabe politischer Parteien, die persönliche Lebensgestaltung der Bürger zu regeln?

Trittin: Ach was. Es ist die Aufgabe politischer Parteien, die Bürger auf Probleme hinzuweisen. Der „Veggie Day“ ist ein Hinweis, dass es dringend notwendig ist, das Tierarzneigesetz zu ändern. Nur so können wir den Drogenhandel im Stall unterbinden.

Welt am Sonntag: Wie bitte?

Trittin: Es gibt Tierärzte, die generieren ihr Einkommen damit, dass sie möglichst viele Antibiotika verschreiben. Ein „Veggie Day“, wie er in Bremer Schulen und Kindergärten schon seit Jahren praktiziert wird, trägt dazu bei, gegen solche Fehlentwicklungen zu mobilisieren. Politische Parteien haben geradezu die Pflicht, die Bürger auch auf diese Weise für solche Themen zu sensibilisieren. Anders sind Missstände in der Gesellschaft nicht zu beheben.

Welt am Sonntag: Meinen Sie nicht, dass die Leute selbst entscheiden können, wann sie Fleisch, Fisch oder Gemüse essen?

Trittin: Natürlich. Aber auf einem Planeten mit sieben Milliarden Menschen betrifft mein Essverhalten nicht nur mich selbst, sondern unter anderem auch das Klima. Wir wollen Nachdenklichkeit für diese Verantwortung auslösen. Jetzt diskutieren alle darüber, ob man mit der Massentierhaltung weitermachen soll. Darum geht’s.

Welt am Sonntag: Die Grünen wollen Erdbeeren im Winter, Mandarinen im Sommer und neuerdings auch die erste Klasse im Zug verbieten. Erziehungsberechtigter der Nation – das ist Ihre Lieblingsrolle.

Trittin: Unsinn. Wir sind die, die überkommene Verbote überwinden, etwa das Verbot der Schwulenehe oder das Arbeitsverbot für Asylbewerber. Wir regen an, darüber nachzudenken, Gemüse und Obst entsprechend der Jahreszeit zu kaufen. Und bei der Bahn wollen wir nicht die erste Klasse abschaffen, sondern Fahrradabteile in ICEs einführen.

Welt am Sonntag: Sigmar Gabriel hat mit der Feststellung überrascht, die Grünen seien die neuen Liberalen. Haben Sie sich beim SPD-Vorsitzenden schon beschwert?

Trittin: Warum sollte ich? Wir haben etwas gegen neoliberale Egoisten. Aber wir sind seit 30 Jahren die Partei der Bürgerrechte, die Partei der Vielfalt der Lebensstile, der neuen Familienmodelle, der Emanzipation.

Welt am Sonntag: Sind die Grünen heute liberaler als in ihren Gründungsjahren?

Trittin: Es hat immer eine liberale und auch libertäre Tradition bei den Grünen gegeben. Das erkennen Sie an der dienstältesten Parteivorsitzenden der Republik. Das ist nämlich Claudia Roth, und die kommt von den Jungdemokraten. (lacht)

Welt am Sonntag: In den 80er-Jahren waren Sie Fraktionsvorsitzender der Grünen in Niedersachsen. Was haben Sie von pädophilen Strömungen in Ihrer Partei mitbekommen?

Trittin: Das war insbesondere in NRW eine große Debatte. Wir haben damals mit einem gewissen Erschrecken gesehen, wie sich das zugespitzt hat. Die Grünen haben 1985 unter anderem deshalb den sicher geglaubten Einzug in den nordrhein-westfälischen Landtag nicht geschafft.

Welt am Sonntag: Die Grünen hatten auf ihrem Landesparteitag in Lüdenscheid beschlossen, Sex mit Kindern zu legalisieren …

Trittin: … und kurz darauf eine Vollbremsung vollzogen. Da hatten Leute eine falsche Einstellung zu Straftaten. Diese Sache wurde programmatisch klargestellt. Auch auf Bundesebene hat eine deutliche Verschiebung stattgefunden. Es hat eine völlige Neugründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule gegeben. Das war im Wesentlichen das Verdienst von Volker Beck, der die grüne Schwulenpolitik von pädophilen Einflüssen befreit hat. Seit 20 Jahren gibt es bei den Grünen eine klare Positionierung.

Welt am Sonntag: Es gibt irritierende Schilderungen aus der Zeit davor. Eckhard Stratmann-Mertens, ein Mitbegründer der Grünen, sagte in einem Interview: „Auf Parteitagen lagen dann teilweise Erwachsene herum, die mit Jugendlichen knutschten.“ Was haben Sie davon bemerkt?

Trittin: Ich kann mich an solche Begebenheiten in dieser Form nicht erinnern. Ich war auch nicht auf jedem Bundesparteitag. Das ist eine Geschichte, bei der wir jetzt ganz bewusst gesagt haben: Das überlassen wir nicht einzelnen Zeugen durch Zufall, sondern lassen es wissenschaftlich aufarbeiten. Wir haben uns dafür jemanden gesucht, den ich als Wissenschaftler hochinteressant finde, der eine hohe Reputation hat und dem man alles Mögliche nachsagen kann, aber eines nicht: dass er ein Freund der Grünen sei.

Welt am Sonntag: Wann erwarten Sie das Ergebnis?

Trittin: Wir haben Franz Walter keine Vorgaben gemacht – auch keine zeitlichen. Er hat erkennen lassen, dass er das für ein anspruchsvolleres Forschungsprojekt hält. Es ist richtig, systematisch und vernünftig damit umzugehen. Mit dem Ergebnis muss man sich auseinandersetzen, und man muss gucken, welche weiteren Konsequenzen gegebenenfalls daraus zu ziehen sind.

Welt am Sonntag: Die „Welt am Sonntag“ hat nachgewiesen, dass es in einer grünen Kommune in Kamp-Lintfort in den 80er-Jahren alltäglichen Missbrauch von Kindern gab. Was haben Sie gedacht, als Sie das gelesen haben?

Trittin: Ich war erschüttert, wie ich über jeden Fall von Missbrauch erschüttert bin.

Welt am Sonntag: Sie könnten eine Anlaufstelle für Opfer einrichten …

Trittin: Es handelt sich um Straftaten, die man nicht billigen kann. Aber die Straftaten sind doch nicht Parteistrukturen zuzuordnen, sondern Individuen. Aufgabe von Herrn Walter ist es, die Haltung der Partei zu solchen Straftaten aufzuklären.

Welt am Sonntag: Es wird also – anders als im Fall der katholischen Kirche – keine Ansprechpartner für Opfer geben.

Trittin: Ich kenne niemanden, der behauptet, es habe systematischen Missbrauch innerhalb der Partei der Grünen gegeben. Einzelne Grüne werden verdächtigt, Straftaten begangen zu haben. Ich halte deshalb den Weg, den wir gehen, für richtig.

Welt am Sonntag: Legen Sie dieselben Maßstäbe an wie bei der katholischen Kirche?

Trittin: Ich lege dieselben Maßstäbe an jede Form von Missbrauch – egal, wer ihn begeht.

Welt am Sonntag: Herr Trittin, noch sechs Wochen bis zur Bundestagswahl – und der Ausgang ist offen. Geben Sie Schwarz-Grün eine Chance?

Trittin: Nein. Die Bundeskanzlerin blockiert eine Einigung beim Emissionshandel, beharrt auf dem Betreuungsgeld und macht uferlos Schulden. Ich sehe keine Grundlage für eine gemeinsame Politik – weder im ökologischen noch im steuerpolitischen Bereich. Warum sollten wir jemandem hinterherlaufen, der das Gegenteil von dem will, was die Grünen wollen?

Welt am Sonntag: In Koalitionsverhandlungen sind schon größere Hürden überwunden worden. Anhänger von Steuererhöhungen gibt es auch in der Union …

Trittin: Die Dinge sind nicht einfacher geworden. Je länger Frau Merkel regiert, desto mehr orientiert sie sich an den Interessen von Lobbygruppen – und hört nicht auf die Bürger, die sich einen gesetzlichen Mindestlohn, eine schnelle Energiewende und mehr Geld für Bildung wünschen. Koalitionen macht man mit Parteien, die etwas Ähnliches wollen.

Welt am Sonntag: Was ist drin für die Grünen bei dieser Wahl?

Trittin: Wir wollen zum ersten Mal mehr als sechs Millionen Wählerinnen und Wähler für uns mobilisieren.

Welt am Sonntag: Selbst wenn Sie damit auf 15 Prozent kommen – für Rot-Grün wird es nach Lage der Dinge nicht reichen. Haben Sie eine Idee, wie die SPD aus ihrem Tief finden könnte?

Trittin: Die SPD sollte ihren Grundgedanken – soziale Gerechtigkeit – in diesem Wahlkampf in aller Deutlichkeit zum Tragen bringen.

Welt am Sonntag: SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück macht bei Angela Merkel eine mangelnde Europa-Leidenschaft aus – und führt dies auf ihre DDR-Vergangenheit zurück. Teilen Sie diese Analyse?

Trittin: Frau Merkel macht schlechte Europapolitik – aber nicht, weil sie aus der DDR kommt. Sondern weil sie eine Vorstellung von Europa hat, die sich gravierend von der Helmut Kohls, aber auch von der meinigen unterscheidet. Ich habe die Vorstellung eines gemeinsamen Europas mit starken europäischen Institutionen, die von einem starken Europäischen Parlament kontrolliert werden. Frau Merkel möchte ein Europa, das im Konsens zwischen den Regierungen und nicht zwischen den Völkern funktioniert. Und sie möchte möglichst schwache europäische Institutionen. Diese Vorstellung von Europa teilt sie gemeinsam mit dem früheren französischen Präsidenten Sarkozy. Und der ist auch nicht in der DDR aufgewachsen, sondern auf Korsika.

Welt am Sonntag: Ist Ihnen die Linkspartei in diesen Fragen näher?

Trittin: Nein, die Linkspartei ist dermaßen antieuropäisch inzwischen, dass es einen gruseln kann. Relevante Teile dieser Partei sind für ein Ende des Euro. Die Linkspartei hätte im Fall von Griechenland einen Staatsbankrott einer geordneten Insolvenz vorgezogen.

Welt am Sonntag: Erwarten Sie einen Schuldenschnitt für Athen?

Trittin: Ob ein neuer Schuldenschnitt nötig wird, hängt davon ab, ob wir in Griechenland das umsetzen, was der Internationale Währungsfonds dringend anmahnt: nämlich zu mehr Investitionen zu kommen, um Wachstum zu generieren. Falsch ist jedenfalls die Haltung der Bundesregierung: einen Schuldenschnitt abzulehnen und jedes Investment in Griechenland zu blockieren. Damit provoziert man einen Schuldenschnitt und macht ihn auch noch größer.

Welt am Sonntag: Der linke Spitzenkandidat Gysi wirbt für Rot-Rot-Grün. Unter welchen Bedingungen sind Sie dabei?

Trittin: Dorothee Bär will einen „Veggie Day“ in der Bundestagskantine. Aber deshalb koaliere ich noch lange nicht mit der CSU. Einige Übereinstimmungen machen keine Koalition. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Gregor Gysi ernsthaft wirbt. Seine Bedingungen könnte keine deutsche Regierung jemals erfüllen. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die Bundeswehr aus allen Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen zurückzieht. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir mehr solcher friedenserhaltenden Einsätze wie im Südsudan oder vor der Küste des Libanon leisten müssen. Wer solche Bedingungen aufstellt, will nicht regieren.

Welt am Sonntag: Und wenn doch: Würde Rot-Rot-Grün an den Grünen scheitern?

Trittin: Wenn der Mond sich ändert, ändert sich viel. Diese Bedingungen werden von der Linken formuliert, weil sie nicht regieren will. Ich finde das erstaunlich: Wo die Linkspartei regiert, macht sie ja eine sehr altbackene Politik. Ich weiß nicht, ob jemand gemerkt hat, dass in Brandenburg der Koalitionspartner der SPD die Linkspartei und nicht mehr die Union ist. Am Ende entscheiden die Bürger, wer das Land regiert.

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