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Dem Morphin auf der Spur

12.04.2004  00:00 Uhr

Pharmaziegeschichte

Dem Morphin auf der Spur

von Klaus Meyer, Münster

„Ohne Morphium möchte ich kein Arzt sein. Es ist der Freund, welcher in der Hand des kundigen Arztes Schmerzen nimmt“, sagte der Medizinprofessor Paul Krause bei der Einweihungsfeier der neuen Medizinischen Fakultät 1925 in Münster (1). Dieser Ausspruch stellt Morphium in den Mittelpunkt ärztlicher Tätigkeit. Entdeckt wurde der viel gerühmte Arzneistoff – in heutiger Nomenklatur Morphin – vor 200 Jahren von Friedrich Wilhelm Sertürner.

Schon immer war es Ziel ärztlichen Bemühens, Schmerzen kranker oder verletzter Menschen zu lindern. Jahrtausendelang verwendeten die Ärzte dazu das Opium. Eine rationale Anwendung scheiterte jedoch daran, dass je nach Wuchsbedingungen die noch unbekannten wirksamen Inhaltsstoffe in unterschiedlichen Mengen enthalten waren. Daher war die Analgesie mal zu gering, mal geriet die Dosierung in toxische Bereiche. Der Anstoß zur Suche nach dem wirksamen Prinzip der Arzneien kam von Paracelsus. Er hatte den fast bis ins Absurde gesteigerten Arzneimischungen den Kampf angesagt und forderte Klarheit (2): „Denn inwendig unter den Schlacken, da liegt die Arznei."

Vor zweihundert Jahren wurde mit Morphium der bedeutendste Inhaltsstoff im Opium gefunden. Der Apothekergehilfe Friedrich Wilhelm Sertürner, der eben erst seine Lehrzeit beendet hatte, analysierte 1804 in Paderborn das Opium und isolierte daraus das wirksame Prinzip. Doch für mehr als ein Jahrzehnt wurde seine Entdeckung vergessen.

Schon das Jahr der Entdeckung war lange umstritten. Verschiedene Autoren nennen sowohl die Jahre 1803 bis 1806 als auch 1815 und 1816. Kerstein belegt jedoch in seiner grundlegenden Analyse (3) anhand von Indizien und Rückschlüssen 1804 eindeutig als das Jahr der Entdeckung. Danach hat Sertürner kurz nach Beginn seiner Gehilfenzeit mit den Opiumarbeiten begonnen. Der zeitliche Schwerpunkt seiner 57 Versuche liegt im Jahr 1804. Ostern 1805 wechselte er in die Ratsapotheke nach Einbeck; zu diesem Zeitpunkt hatte er die schriftliche Fixierung seiner Arbeiten abgeschlossen und an das Journal der Pharmacie von Johann Bartholomäus Trommsdorff geschickt. Somit kann nur 1804 als das Jahr der Entdeckung in Frage kommen; die Publikation ist im Frühjahr 1806 erschienen.

Seine Entdeckung gilt zu Recht als eine der bedeutendsten Leistungen auf dem Gebiet der Pharmazie. Der aktuelle Wert von Morphin in der Schmerztherapie kann bis heute nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Apothekergehilfe in Paderborn

Friedrich Wilhelm Sertürner wurde 1783 in Neuhaus nahe Paderborn als Sohn des in fürstbischöflichen Diensten stehenden Landmessers Joseph Simon Sertürner geboren. Dieser starb, als der Junge 15 Jahre alt war. Die mittellose Witwe konnte seinen Wunsch, den Beruf des Vaters zu erlernen, nicht verwirklichen, und so begann Friedrich 1799 die vierjährige Lehre beim Hofapotheker Franz Anton Cramer in Paderborn.

Wissenschaftlich gesehen war Paderborn zu jener Zeit tiefste Provinz. Dennoch müssen in der Hofapotheke wichtige Standardwerke der Pharmazie vorhanden gewesen sein. 1803 bescheinigte ihm der Landphysikus Dr. Schmidt bei seinem Examen zum Apothekergehilfen „treffliche Kenntnisse“ und „daß ihm als einem brauchbaren sehr tüchtig befundenen Apotheker die Geschäfte der Apotheke (da derselbe jetzt als Gehülfe auftritt) anvertraut werden können“ (4).

Der Wechsel zum 19. Jahrhundert bedeutete für die Pharmazie ebenso einen Umbruch wie für viele andere Naturwissenschaften. Die Erforschung des Arzneischatzes in der eigenen Apotheke war für viele Apotheker zu einer wissenschaftlichen Herausforderung geworden. Die vorangegangenen Jahrzehnte hatten das analytische Rüstzeug dazu geliefert. Daher wandte sich der junge Adept, wohl unmittelbar nach dem Abschluss des Examens 1803 und angeleitet durch Cramer, dem Problem der unterschiedlichen Wirksamkeit von Opium bei der Schmerzbekämpfung zu.

Naturwissenschaftliches Umfeld

Um die Leistung Sertürners zu verstehen, muss man den Stand der Erforschung des pflanzlichen Arzneischatzes jener Zeit kennen. Überall in Europa versuchten die Apotheker im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, durch Extraktion, Ausfällen, Dekantieren und Filtrieren die Inhaltsstoffe der Arzneipflanzen und deren chemische Zusammenhänge zu ergründen. Die Zitronensäure (1774), Äpfelsäure (1785), Sauerkleesäure (1778), Weinsteinsäure (1769) und viele andere Säuren wurden isoliert. Gleichzeitig fand man immer mehr chemische Verbindungen und Elemente, beispielsweise Phosphor, Sauerstoff und Chlor. Frankreich war lange Zeit führend in der Pflanzenchemie (5).

In allen europäischen Ländern war die Pharmazie im Begriff, sich von einem reinen Lehr- zum akademischen Beruf zu entwickeln. Dadurch verbanden sich profunde, handwerkliche Fähigkeiten der Apotheker mit dem steigenden Wissensstand in Chemie und Botanik zu einem enormen Potenzial, die Natur zu ergründen.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich reiches Wissen über die chemischen Zusammenhänge im Pflanzen- und Mineralreich angesammelt. Im regen Wissensaustausch in Fachzeitschriften sowie in der persönlichen Korrespondenz der führenden Wissenschaftler nahm die Pflanzenchemie eine bevorzugte Stellung ein. Dabei hatte sich die allgemeine Überzeugung gebildet, dass pflanzliche Wirkstoffe nur als Säuren vorliegen würden. Die Dominanz dieser Auffassung spielte bei der Entdeckung des Morphiums eine entscheidende Rolle.

Ausgangsstoff Opium

Die Suche nach den Wirkstoffen im Opium war seit dem 17. Jahrhundert im Gang. Man hatte bereits einzelne Salze mit opiumähnlichen Wirkungen gefunden. Antoine Baumé (6) hatte mit seinem „sel essentiel d'opium“ das Narkotin und Charles Derosne (7) mit dem „sel de Derosne“ eine Mischung von Narkotin und Morphium gefunden (8). Derosne hatte wie alle anderen eine Pflanzensäure im Opium gesucht, aber das von ihm beschriebene Salz reagierte trotz mehrfacher Reinigung alkalisch. Der Forscher schrieb die alkalische Reaktion einer nicht zu beseitigenden Verunreinigung zu (9). Auf die Idee, dass die Alkalität eine Substanzeigenschaft sein könne, kam er nicht.

Von alledem wusste Sertürner in Paderborn nichts. Pharmazeutische oder chemische Wissenschaft spielte sich in Berlin, München oder in Erfurt bei Trommsdorff ab, keinesfalls in der Provinzstadt Paderborn. Mit der Unbekümmertheit der Jugend analysierte er das Rohopium und zeichnete seine Untersuchungen in 57 Schritten auf, leider aber nicht mit sorgfältigen Mengenangaben. Das brachte ihm später erhebliche Kritik der Wissenschaftler ein und war letztlich der Grund, dass die Publikation von 1806 so wenig Beachtung fand. Zudem war wertvolles, bereits aufgearbeitetes Material durch Missgeschicke verloren gegangen.

Entdeckung des Morphiums

Wie ging Sertürner vor? Bei der Aufschließung des Rohopiums verwendete er die erlernten Verfahren, was in der Regel mit einem wässrigen Auszug durch Auskochen des Rohopiums begann (Versuche 1 und 2). Daraus erhielt er nach Neutralisation mit Ammoniak einen „grauen Rückstand“ (Versuch 5) und ein Filtrat, in dem er eine Säure fand, die er nach mehreren Operationen rein darstellen konnte. Er nannte sie Mohnsäure (Versuch 6 bis 10). Auch den grauen Niederschlag, den er nach dem Auswaschen des Ammoniaks probierte und der "zwischen den Zähnen knirschte ... einen spezifischen Geschmack hatte ... und ihm Unbehaglichkeit" verursachte, behandelte er weiter (Versuch 21).

Da dieser Niederschlag sich nicht in Wasser, wohl aber in Essigsäure löste, vermutete er, dass es sich um einen alkalischen Stoff handle. Um das zu überprüfen, machte er die Gegenprobe: Mit Alkali musste das lösliche Salz wieder in die unlösliche Basenform überführt werden. Er gab also Ammoniak zur Salzlösung, und in der Tat fiel der gleiche Niederschlag aus (Versuche 25 und 33). Da er das mehrfach wiederholen konnte, konnte es kein Gemisch mehr sein: Er hatte ein Endprodukt gefunden.

Ein solches Produkt war bislang unbekannt. Im 25. Versuch stellte Sertürner fest: „Schon aus diesem wenigen scheint zu erhellen, dass dieser Körper weder Erde, Gluten noch Harz; sondern ein ganz eigener Stoff sey.“ Er vermutete bereits, das wirksame Prinzip des Opiums gefunden zu haben. Um dies zu testen, entschied er sich zur Überprüfung am lebenden Objekt. Dazu gab er einem Hund eine kleine Menge des Stoffs, der in Alkohol aufgelöst und mit Zuckersaft gesüßt war. Dieser reagierte nach einer halben Stunde mit Schläfrigkeit, drohte im Stehen umzufallen und erbrach wenig später (Versuch 26). Weitere Gaben waren ihm nicht einzuflößen. Sertürner folgerte (Versuch 27): „Hieraus fließt mehr als wahrscheinlich, dass dieser Körper der eigentliche betäubende Grundstoff des Opiums ist.“

Um ganz sicherzugehen, gab er dem Hund noch einmal die Substanz, nachdem er sie mit besonderer Sorgfalt gereinigt hatte. Das Ergebnis war gleich, nur stärker nach höherer Dosierung. In letzter Sekunde rettete ein Gegenmittel – schwache Essigsäure - den Hund, der jedoch einen nochmaligen Versuch nicht überlebte (Versuche 36 und 37). Auch für die Gegenprobe diente ein Hund. Der Restextrakt, aus dem die wirksame Substanz ausgeschieden worden war, wurde in gelöster Form gegeben – ohne jeglichen Effekt (Versuch 38).

Bei seinen vielfältigen Untersuchungen des Opiums fand Sertürner auch die Mohnsäure. Alle Substanzen, die er isolierte, prüfte er an Hunden oder Mäusen. Er war sich sicher (Versuch 53): „Hieraus glaube ich mit Gewißheit schließen zu dürfen, dass die große Reizbarkeit des Opiums nicht von Harz- oder Extraktivstoffen, sondern von diesem besonderen krystallisierbaren Körper herzuleiten ist. Ich werde ihn, zum Unterschied zu dem hypothetisch angenommenen narkotischen Stoffe, schlafmachenden Stoff (principium somniferum) nennen."

Geniale Schlussfolgerungen

Die Genialität eines Forschers liegt nicht nur in der richtigen Wahl seiner Fragestellungen und Experimente, sondern ebenso in seinen Schlussfolgerungen. Bereits in der Publikation von 1806 erklärte Sertürner unter „Folgerungen und Bemerkungen“ die Forderung der Ärzte nach einem Opiumpräparat mit immer gleich bleibender Wirkung für erfüllt: „Daher mag es wohl kommen, daß dem Urtheil der Aerzte zufolge das Opium in Substanz sicherer und stärker als alle daraus gefertigten Präparate wirkt.“

Mit großer Selbstsicherheit formulierte der junge Apothekergehilfe: „Wird es ferner erwiesen, daß der schlafmachende Stoff an und für sich dieselben (wo nicht bessere) Wirkungen als das Opium in der thierischen Oekonomie hervorbringt, so sind alle diese Schwierigkeiten gehoben; der Arzt hat nicht mehr mit der Ungewißheit und dem Ungefähre, worüber oft geklagt wird, zu kämpfen, er wird sich immer mit gleichem Erfolg dieses Mittels ..., statt der nicht immer gleichen jetzt gebräuchlichen Opiumpräparate bedienen können.“ Damit wies Sertürner, vielleicht ohne sich der Tragweite voll bewusst zu sein, auf eine weitere Dimension seiner Entdeckung hin: Er hatte die Basis für die Entstehung der Experimentellen Pharmakologie gelegt. Die Mediziner konnten nun mit exakt dosierbaren Arzneisubstanzen an lebenden Organismen experimentieren und die Wirkung überprüfen.

In seiner Publikation geht der junge Apotheker auf ein weiteres Ergebnis seiner Arbeit ein. Derosne habe den Charakter des Morphiums als alkalischen Inhaltsstoff nicht erkannt (11): „Auch bin ich nicht geneigt zu glauben, dass der schlafmachende Stoff seine den Kalien fast ähnliche Eigenschaft von den zur Scheidung angewandten Kalien erhält, vielmehr sehe ich dies als eine ausgezeichnete Eigenschaft seiner Mischung an.“ Damit hatte er als Erster und entgegen der herrschenden anerkannten Theorie den Gedanken vertreten, dass Pflanzeninhaltsstoffe alkalischen Charakter haben können. Und er vermutete, dass dies kein Einzelfall, sondern in vielen Arzneipflanzen zu finden sei.

Zu Recht behauptete er, eine neue Klasse pflanzlicher Arzneistoffe von hoher Wirksamkeit gefunden zu haben (12): „Hierbey eröffnet sich wieder dem praktischen Scheidekünstler ein neues noch wenig geebnetes Feld zur Untersuchung; denn man darf hoffen, daß sich aus mehreren anderen Vegetabilien, z. B. den sog. Giftpflanzen und mehreren anderen Stoffe abscheiden lassen, worin ihre Wirkungen vereiniget liegen.“

Die an das Trommsdorff'sche Journal der Pharmacie gesandte Publikation erschien 1806, wurde jedoch in ihrer Bedeutung nicht erkannt und für mehr als ein Jahrzehnt vergessen. Trommsdorff, damals führender pharmazeutischer Wissenschaftler in Erfurt, kommentierte sie mit den Worten (13): „Die Versuche des Herrn Verf. enthalten manche sehr interessante Ansichten, wofür ihm das chemische Publikum viel Dank schuldig ist. So vielfach aber nun auch die Arbeiten über das Opium sind, so darf man doch die Akten keineswegs als geschlossen ansehen, und es ist vielmehr zu wünschen, dass dieser Gegenstand noch weiter untersucht werden möchte, um manche noch obwaltende Dunkelheiten in ein helleres Licht zu setzen. Vorzüglich wünschte ich, dass die Versuche mit etwas großen Mengen möchten wiederholt werden.“

Die zweite Publikation 1817

Sertürner wechselte Ostern 1805 als Gehilfe in die Ratsapotheke nach Einbeck. Als die Napoleonischen Gesetze 1808 die Gewerbefreiheit ermöglichten (14), gründete er eine zweite Apotheke in Einbeck, nachdem er sein Apothekerexamen vor dem Medizinalkollegium in Kassel 1809 bestanden hatte. Diese Patentapotheke trug ihm wenige Jahre später einen langjährigen Rechtsstreit ein, weil mit der Niederlage Napoleons bei Leipzig 1813 auch deren gesetzliche Grundlage entfiel (15).

Daher konnte Sertürner sich erst 1816 wieder mit dem Opium befassen, nun mit der Intention, die früheren Versuche noch einmal mit großer Sorgfalt und gewissenhaften Labornotizen zu wiederholen. Er kam zum gleichen Ergebnis wie ein Jahrzehnt zuvor.

Im Vorwort der Publikation vom Frühjahr 1817, nun in den international anerkannten Annalen der Physik (16), ging er auf seine früheren Versuche ein: „Meine Abhandlung insbesondere hat man nur wenig berücksichtigt; sie war flüchtig geschrieben, die Mengen, mit denen ich gearbeitet hatte, waren nur kleine.“ Zudem beschrieb er einen Selbstversuch, den er mit drei Freunden unternahm, um die Wirkung des Morphiums am Menschen zu testen. In Abständen von je einer halben Stunde verabreichte er sich und seinen Freunden dreimal etwa ½ Gran (17) – das Dreifache der heutigen Höchstdosis. Die Wirkung war verheerend. Nur mit Mühe und in letzter Sekunde gab er sich und ihnen ein Brechmittel, das allen das Leben rettete.

Auf diese zweite Publikation wurde der französische Chemiker und Herausgeber der Zeitschrift Annales de chimie et de physique, Louis-Joseph Gay-Lussac, aufmerksam (18). Er erkannte die Bedeutung Sertürners Entdeckung, nach der in Europa nach wie vor fieberhaft gesucht wurde, und veranlasste eine Übersetzung, die ebenfalls im Frühjahr 1817 erschien (19). Zudem sorgte er dafür, dass die Publikation auch in Deutschland bekannt und gewürdigt wurde. „Dies ist eine Entdeckung, die ihrem Urheber alle Ehre macht."

Die Tatsache, dass seine Ergebnisse erst auf dem Umweg über Frankreich bekannt wurden, hat Sertürner tief gekränkt. Er kommentierte dies kurz darauf (20): „Es ist eine leider noch zu häufige Krankheit bei uns, dass wir unsere Blicke mehr nach dem gallischen und brittischen, als nach dem germanischen Boden richten, und gegen den Werth des letzteren ... die Augen verschließen. ... Dazu gesellt sich noch das Anstaunen und gierige Haschen der Deutschen nach den ausländischen Producten. ... sie würdigen sich so tief herab, dass sie nicht allein bei gleichem Werth das in unsern Wissenschaften aus dem Ausland kommende dem Vaterländischen vorziehen."

Promotio in absentia

Anerkennung fand Sertürner nun auch in Deutschland, wobei die Aufnahme im Mai 1817 in die „Societät für die gesammte Mineralogie zu Jena", deren Präsident zu jener Zeit Goethe war, den Anfang machte (21). Zugleich ergriff er die Gelegenheit, seine Arbeit über das Morphium als Grundlage einer Promotion an der philosophischen Fakultät der Universität Jena einzureichen. Er nutzte die in den Universitätsstatuten vorgesehene Möglichkeit einer Promotio in absentia, nach denen auch ohne akademische Ausbildung ein Doktorgrad erworben werden konnte. Der Kandidat musste dazu eine wissenschaftliche Arbeit von außergewöhnlicher Qualität vorlegen. Sertürners Publikation wurde als Dissertation anerkannt, und im Mai 1817 wurde er zum Dr. phil. promoviert (22).

In den Folgejahren hat Sertürner reiche Anerkennung erfahren. Er wurde korrespondierendes Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften im In- und Ausland und erhielt kurz vor seinem Tode 1841 die Ehrenmitgliedschaft im „Apothekerverein im Nördlichen Teutschland“ (23).

Sertürner musste 1817 seine Apotheke in Einbeck schließen und schuf sich 1821 in Hameln mit dem Kauf der Ratsapotheke eine neue Existenz. Mit großer Verbitterung erfüllte ihn, dass französische Chemiker, die ihn wenige Jahre zuvor als großen Entdecker gefeiert hatten, ihm zu Beginn der 1820er-Jahre die Priorität der Morphiumentdeckung streitig machten (24). Nach jahrelangem Streit entschied die französische Akademie der Wissenschaften in Paris als Ergebnis einer Preisaufgabe, dass Sertürner eindeutig und ohne Zweifel der Entdecker war. Dafür wurde ihm 1831 der angesehene, mit 2000 Francs dotierte „Prix Montyon" zuerkannt (25).

In den zwei Jahrzehnten in Hameln widmete er sich einer breiten Palette wissenschaftlicher Themen. Produkte seines Schaffens sind mehrere Jahrgänge einer selbst gegründeten wissenschaftlichen Zeitschrift, Bücher über den damaligen Stand der Chemie sowie eine Theorie über die Ursachen der Cholera, die wenig Beachtung fand und erst viel später in ihren Grundzügen bestätigt wurde.

Sein ganzes Leben lang leistete Sertürner ein fast übermenschliches Arbeitspensum. Zudem verbitterten ihn die ständigen Auseinandersetzungen immer mehr und machten ihn zu einem misstrauischen Sonderling. Er starb im Februar 1841 an den Folgen einer schmerzhaften Gicht.

Weitreichende Bedeutung

Sertürners Entdeckung kann in mehrfacher Hinsicht als Ausgangspunkt für neue Entwicklungen gelten:

  • Morphium, heute Morphin genannt, steht bis heute im Zentrum der Schmerztherapie.
  • Der alkalisch reagierende Pflanzeninhaltsstoff war der erste Vertreter einer neuen Arzneistoffklasse, den Alkaloiden.
  • Zum ersten Mal lag ein hoch wirksamer pflanzlicher Arzneistoff in Reinsubstanz vor. Die dadurch mögliche exakte Dosierung war die Grundvoraussetzung für die Experimentelle Pharmakologie.
  • Mit Morphium und den anderen Alkaloiden begann wegen der kaum zu befriedigenden Nachfrage die Loslösung der Arzneiherstellung aus dem Apothekenlabor.

Fortschritt in der Schmerztherapie

Das reine Morphium ermöglichte dem Arzt eine exakte Dosierung und stellte damit die Schmerzbeseitigung auf sicheren Boden. Die medizinische Forschung begann mit den Untersuchungen von François Magendie, der bereits 1821 erste klinische Beobachtungen und Erfahrungen publizierte (26, 27). In Frankreich wurde Morphin erstmals 1818 (28) in ein amtliches Arzneibuch aufgenommen (29). In Deutschland folgte 1820 die Pharmacopoea Saxonia; doch weitere Pharmacopoeen wie die dänische (1821), die schwedische (1821), die Londoner (1823) und die irische (1826) führten Morphium nicht auf. Erst die Pharmacopoea Borussica von 1827 beschrieb die Darstellung von Morphium und Morphium aceticum.

Eine große Hürde stellte die Applikation am Menschen dar. Da der unangenehme Geschmack und Brechreiz die orale Gabe erschwerten, suchte man eine Methode, den Magen-Darm-Kanal zu umgehen, und rieb nach künstlicher Zerstörung der Hautoberfläche eine Morphinanreibung auf die entzündete Hautblase (Endermatische Methode, 1820) (30). Die martialische Methode schränkte jedoch eine breite Anwendung erheblich ein. Erst die Entwicklung des Injektionsverfahrens durch Charles-Gabriel Pravaz ermöglichte eine einfachere und schmerzlose parenterale Applikation (31, 32). Damit begann der Siegeszug des Morphins in der Schmerztherapie.

Alkaloide im Aufwind

Als Sertürner in seiner ersten Publikation andeutete, dass er eine neue Klasse von Pflanzeninhaltsstoffen gefunden habe und sich dem praktischen Scheidekünstler - damit meinte er die Apotheker - ein neues Feld zur Untersuchung eröffne, konnte er nicht ahnen, welch gewaltige Entwicklung er damit in Gang setzte. Viele Apotheker, vor allem in Frankreich und Deutschland, stürzten sich geradezu auf die Drogen und suchten nach ähnlich reagierenden Inhaltsstoffen.

Der Besitzer der Löwen-Apotheke in Halle, Dr. Carl Friedrich Wilhelm Meißner (1792 bis 1853), hatte im Sabadillsamen das Veratrin gefunden und suchte einen Namen für die neue Arzneistoffklasse. Er nannte sie Alkaloide (33). In wenigen Jahren wurden zahlreiche neue Stoffe gefunden, isoliert und rein dargestellt (Tabelle) (34).

 

Tabelle: Entdeckung wichtiger Alkaloide von 1817 bis 1820

Entdeckungsjahr Inhaltsstoff Arznei- oder Nutzpflanze, Herkunft Entdecker 1817 Emetin Brechwurzel (Cephaelis ipecacuanha), Brasilien Pelletier, Magendie 1818 Strychnin Brechnuss (Strychnos nux vomica), Ceylon Pelletier, Cavantou Veratrin Nießwurz (Veratrum album), Südeuropa Meißner 1819 Delphinin Stephanskörner (Delphinium staphisagria), Südeuropa Brandes Colchicin Herbstzeitlose (Colchicum autumnale), Europa Pelletier, Cavantou Piperin Schwarzer Pfeffer (Piper nigrum), Ostindien Oersted 1820 Coffein Kaffee (Coffea arabica), Tropische Länder Runge

 

Bis 1850 wurden mehr als 30 neue Alkaloide entdeckt, pharmakologisch getestet und als Arzneimittel eingesetzt. Jean Baptiste Dumas (35) und Pierre Joseph Pelletier (36) waren die Ersten, die die Elementaranalyse der neuen Stoffe auch quantitativ versuchten (37). Bereits 1821 konnten sie die ersten Summenformeln für Chinin und Morphin präsentieren. Eine Erklärung für den basischen Charakter fanden sie nicht. Erst Justus von Liebig identifizierte 1831 den Stickstoff als Ursache der Basizität (38).

Entwicklung der Pharmakologie

Die Tatsache, dass nun wirksame Arzneistoffe frei von Begleitstoffen zur Verfügung standen, regte viele Ärzte an, die reinen Substanzen mit immer gleich bleibender Wirkung anzuwenden. Schon Ende des 17. Jahrhunderts war der Begriff Pharmakologie als die Lehre von der Wirkung der Arzneimittel geprägt worden. Doch noch 1799 stellte Adolph Friedrich Nolde bedauernd fest (39): „Solange wir die Wirkungsart der Arzneimittel nicht nach dem ‚Princip der Causalität' angeben können, solange bleibt uns nichts anderes übrig, als dass wir ... aus sorgfältig angestellten Beobachtungen und Erfahrungen mit größter Vorsicht und Circumspection die Gesetze, nach welche sie ihre bestimmte Wirkung zu äußern pflegen, abstrahieren.“

Erst die reinen Substanzen ermöglichten den Ärzten exakte und reproduzierbare Versuche. Diese galten in erster Linie dem Morphium, aber letztlich jedem neu entdeckten Alkaloid.

Vom Apothekenlabor zur Industrie

Auf Grund ihrer Fähigkeiten und ihrer Laborausstattung waren Apotheker als Einzige in der Lage und somit auch gefordert, die neuen Arzneistoffe in ausreichender Menge zu liefern. Die meisten folgten diesem Anspruch. Die damaligen Fachjournale belegen einen sehr regen Erfahrungsaustausch.

Sehr bald jedoch wurden die Grenzen sichtbar. Die Apothekenlabors waren nicht dafür ausgestattet, Arzneistoffe in großem Maßstab zu isolieren und die Herstellungsvorschriften waren nicht ausgereift. Wegen unterschiedlicher Ausgangsmaterialien entstanden letztlich keine einheitlichen Produkte. Darin erkannten andere Apotheker ihre Chance, erweiterten ihre Labors oder schufen neue Produktionsstätten. Allen voran Emmanuel Merck, Besitzer der Engel-Apotheke in Darmstadt, der als Unternehmensphilosophie postulierte, die isolierten Alkaloide und andere Arzneistoffe in immer gleich bleibender Qualität zu liefern (40).

Innerhalb weniger Jahre nahm die Produktion einen kaum geahnten Aufschwung. Etliche Apotheker sahen die Möglichkeiten, die in der Herstellung und Lieferung von Arzneistoffen und fertigen Präparaten an andere Apotheken lagen. Der weitaus größte Teil der damals gegründeten pharmazeutisch-industriellen Betriebe hat seine Wurzel in einer Apotheke. Als Beispiele für Firmengründungen, die heute noch bestehen, kann man Beiersdorf, Merck, Riedel, Braun, Trommsdorff und Engelhard nennen. Jedoch löste sich die Herstellung pharmazeutischer Produkte langsam, aber unaufhörlich aus der Mutterapotheke. Die pharmazeutische Industrie als eigenständiges Element der Wirtschaft etablierte sich im 19. Jahrhundert. Sertürners Morphiumentdeckung steht am Anfang dieser Entwicklung und ist wesentlicher Teil davon.

 

Literatur und Anmerkungen

  1. Krömeke, F., Friedrich Wilh. Sertürner, der Entdecker des Morphiums. Jena 1925, Neudruck Bad Honnef 1983, S. V.
  2. Seefelder, M., Opium, eine Kulturgeschichte. dtv-Sachbuch, Frankfurt 1990, S. 185.
  3. Kerstein, G., Über den Zeitpunkt der Entdeckung des Morphiums durch Sertürner. Dtsch. Apoth. Ztg./Süddtsch. Apoth. Ztg. 94 (1954) 968 f.
  4. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover. Hann. 80 Hild. I M Nr. 680.
  5. vgl. Löw, R., Die Geschichte der Pflanzenchemie von 1790 bis 1820. Nat. wiss. Diss. München 1977.
  6. Antoine Baumé (1728, Senlis, bis 1804, Carrière), Apotheker und Mitglied der Academie der Wissenschaften in Paris.
  7. Charles Louis Derosne (1780 bis 1846, Paris), Apotheker.
  8. Seefelder, wie Anm. 2, S. 187.
  9. Schwedt, G., Berühmte Raths-Apotheker in Hameln. Westrumb und Sertürner. Seesen 2001, S. 74.
  10. Sertürner, F. W., Darstellung der reinen Mohnsäure (Opiumsäure) nebst einer chemischen Untersuchung des Opiums. Journal der Pharmacie 14 (1806) 47 - 93. In Klammern der jeweilige Versuch in seiner Originalarbeit; zit. nach Krömeke (1) 33 - 57.
  11. Sertürner, wie Anm. 10, S. 93.
  12. Sertürner, wie Anm. 10, S. 92.
  13. Sertürner, wie Anm. 10, S. 93.
  14. Hamburger, A., Die Apothekenbetriebsrechte des ehemaligen Königreichs Westfalen und des ehemaligen Herzogtums Braunschweig. Pharm. Ztg. 76 (1931) 433 f.
  15. Meyer, K., Sertürner im Rechtsstreit um seine Apotheke. Pharm. Ztg. 140 (1995) 144 – 148.
  16. Sertürner, F. W., Über das Morphium, eine neue salzfähige Grundlage, und die Mekonsäure, als Hauptbestandteile des Opiums. Annalen der Physik, N. F. 25 (1817) 56 – 89; zit. nach Krömeke (1), 61 – 81.
  17. Die Menge (1 Gran, granum, altrömisches Gewicht = 57 mg) entspricht ungefähr dem Doppelten der heutigen Höchstdosis.
  18. Louis Joseph Gay-Lussac (1778, St. Leonard, bis 1850, St. Leonard), Professor für Chemie und Physik in Paris.
  19. N. N., Analyse de l'Opium. Traduit de Gilbert's Annalen der Physik; neue Folge, vol. XXV, p. 56, par M. Rose, pharmacien à Berlin. Annales de chimie et de physique 50 (1817) 21 – 42.
  20. Sertürner, F. W., Über eines der fürchterlichsten Gifte der Pflanzenwelt, als ein Nachtrag zu seiner Abhandlung über die Mekonsäure und das Morphium. Annalen der Physik N. F. 27 (1817); zit. nach Krömeke (1) 92.
  21. Meyer, K., Müller, R.-D., Säuberlich, H., F. W. Sertürner, Entdecker des Morphiums. Katalog der Ausstellung zum 200. Geburtstag. Paderborn 1983, S. 43.
  22. Meyer, K., Hat F. W. Sertürner den Dr. phil. erworben oder die Ehrendoktorwürde erhalten? Geschichte der Pharmazie 43 (1991) 34 – 37.
  23. Meyer, wie Anm. 21, S. 67 – 71.
  24. Friedrich, Ch., Zum 150. Todestag des Entdeckers des Morphins, Friedrich W. Sertürner. Pharm. Ztg. 136 (1991) 1935 - 1941.
  25. Procès verbaux de l'Academie des Sciences: Tome 9, Seance du Lundi 20 Juin 1831. Die Eintragung im Wortlaut: Deux mille francs à M. Serturner pour avoir réconnu la nature alcaline de la morphine et avoir ainsi ouvert une voie qui a produit de grandes découvertes medicales.
  26. Francois Magendie (1783, Bordeaux, bis 1855, Samois), Arzt, Professor am College de France.
  27. Magendie, F., Vorschriften zur Bereitung und Anwendung einiger neuer Arzneimittel (aus dem Französischen). Leipzig 1822.
  28. Die systematisch bessere Bezeichnung „Morphin" anstelle von „Morphium" wurde von Robiquet eingeführt. Vgl. Gizycki, F. v., Die Aufnahme des Morphins in den Arzneischatz. Dtsch. Apoth. Ztg. 96 (1956) 583.
  29. Der Codex Medicamentorum s. Pharmacopoea Gallica, Ed. 1818, führte als erste Alkaloide Morphin und Emetin auf; Ersteres unter der Bezeichnung „Extractio Morphinae iuxta methodum D. Serturner" und „Extracta ex opio materies Morphina dicta". Vgl. Gizycki, wie Anm. 28, S. 584
  30. Gizycki, wie Anm. 28, S. 584.
  31. Charles Gabriel Pravaz (1791, Pont-de-Beauvoisin, bis 1853, Lyon), Orthopäde und Urologe.
  32. Seefelder, wie Anm. 2, S. 200.
  33. Müller, J., Die Konstitutionserforschung der Alkaloide. Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 33, Stuttgart 1985, S. 9.
  34. Bernsmann, W., Arzneimittelforschung und -entwicklung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Pharm. Ind. 29 (1967) 32.
  35. Jean Baptiste Dumas (1800, Alais, bis 1884, Cannes), Apotheker, Professor für Chemie an der Sorbonne.
  36. Joseph Pelletier (1788, Paris, bis 1842, Paris), Apotheker, Professor für Naturgeschichte.
  37. Dumas, J. B., Pelletier, J., Annales de Chimie et de Physique, 17 (1821) 316; zit. nach Anm. 30, S. 11.
  38. Liebig, J., Magazin für Pharmazie in Verbindung mit einer Experimentalkritik. Heidelberg 33 (1831) 143; zit. nach Anm. 33, S. 14.
  39. Nolde, A. F., Erinnerung an einige zur kritischen Würdigung der Arzneymittel sehr nothwendige Bedingungen. Hufelands Journal der practischen Arzneykunde. Zit. nach Heischkl, E., Arzneimittellehre und Arzneimittelverbrauch im Zeitalter der romantischen Naturphilosophie. In: Die Vorträge der Jubiläums-Hauptversammlung in Salzburg 1951. Hrsg. Internationale Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie 1952, S. 63.
  40. Kohl, F., Fundgrube Opium: von Morphium bis Papaverin. Pharm. Ztg. 143, Nr. 45 (1998) 3948 - 3952.

 

Den Professoren Dr. Christoph Friedrich zum 50. Geburtstag und Dr. Wolf-Dieter Müller-Jahncke zum 60. Geburtstag gewidmet.

 

Der Autor

Klaus Meyer hat in Marburg Pharmazie studiert und wurde 1961 in München mit einer naturwissenschaftlichen Arbeit promoviert. Von 1962 bis 1996 leitete er seine Apotheke in Oelde/Westfalen und war in zahlreichen fachpolitischen Gremien auf Landes- und Bundesebene aktiv. Dr. Meyer ist seit 1963 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (DGGP). 1981 wurde er zum Vorsitzenden der Regionalgruppe Westfalen-Lippe und in den DGGP-Vorstand gewählt. 1990 übernahm er das Amt des Schatzmeisters und 1996 das des Vorsitzenden der DGGP. Von 1989 bis 1999 bekleidete er das Amt des Sekretärs der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie (IGGP). 1999 wurde er in die Académie Internationale d´Histoire de la Pharmacie aufgenommen. Schwerpunkte seiner historischen Arbeiten sind Friedrich Wilhelm Sertürner, die Seuchengeschichte und die Geschichte der DGGP.

 

Anschrift des Verfassers:
Dr. Klaus Meyer
Sertürner Straße 9 B
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