1 Einleitung

Einer der prägnantesten Momente des Wandels von Arbeitsmärkten in den vergangenen Jahrzehnten liegt in der konstanten Zunahme der Erwerbsintegration von Frauen. Angetrieben von Bildungsexpansion und Gleichberechtigung gelang es ihnen, in qualifizierteren Berufen Fuß zu fassen und kontinuierlicher zu arbeiten (Wanger 2011). Die ausgeprägten Geschlechterungleichheiten im Arbeitsmarkt mit Blick auf Entlohnung und Repräsentanz in Führungspositionen haben allerdings nicht im gleichen Maße abgenommen, wie Frauen Terrain gutgemacht haben (Achatz 2018). Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Persistenz der Trennung von Frauen und Männern in unterschiedliche Berufe, Branchen und Betriebe (Hausmann und Kleinert 2014). Insgesamt ist es Frauen in den letzten Jahrzehnten zwar zunehmend gelungen, höherwertige Berufe zu erlernen und auszuüben, da sie aber auch andere Studienfächer wählen als Männer, hat sich die Segregation insgesamt kaum verändert (Barone 2011).

Die Ursachen für diese paradoxe Entwicklung wurden vielfach untersucht. Besonders bedeutsam erscheint hier der Befund, dass die Wahrnehmung typisch männlicher und weiblicher Berufe bereits in der Kindheit angelegt ist und die Berufswahl steuert (Gottfredson 2002; Helwig 2011). Die Forschung zur Erklärung von vergeschlechtlichten Berufsaspirationen hat reichhaltige Befunde zur Entstehung der Geschlechtstypik in der Kindheit und ihrer intergenerationalen Reproduktion erbracht.

Über die Relation von geschlechts(un)typischen Aspirationen und tatsächlichem Berufswahlverhalten ist dagegen weniger bekannt. Dynamische Modelle der Berufswahl gehen davon aus, dass Berufswünsche einerseits immer stärker von den Jugendlichen selbst beschnitten werden, je näher die Entscheidung für ein berufliches Feld rückt, weil sie mehr Informationen erhalten, ihre Ziele mit Dritten aushandeln und realistischere Annahmen über Interessen, Leistungsgrenzen und berufliche Passung entwickeln. Andererseits müssen sie Kompromisse eingehen, wenn sie mit Opportunitäten auf Ausbildungsmärkten konfrontiert werden (Gottfredson 2002). Bislang gibt es nur relativ wenige Studien, die empirisch untersuchen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen Jugendliche mit unterschiedlichen Ressourcen Kompromisse in der Geschlechtertypik von Berufen eingehen. Dies gilt insbesondere für Länder mit verberuflichten Arbeitsmärkten wie Deutschland, in denen sich Jugendliche um Ausbildungsstellen bewerben und sich in vergleichsweise jungem Alter für einen spezialisierten Ausbildungsberuf entscheiden müssen, der prägend für das weitere Erwerbsleben ist (Gangl 2001; Shavit und Müller 1998).

Kompromisse zwischen Aspirationen und Berufswahlentscheidungen können im Bewerbungsprozess einerseits aufgrund geschlechtstypischer Rekrutierungsstrategien von Betrieben und Schulen auftreten. Andererseits handeln Jugendliche ihre Berufswahlentscheidungen während der Bewerbungsphase verstärkt mit relevanten Dritten wie Eltern, Lehrerinnen und Lehrern oder der Berufsberatung aus. In der Summe können die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen dieser Akteure Divergenzen zwischen Aspirationen und tatsächlichen Berufswahlentscheidungen der Jugendlichen „zurück zur (geschlechterkonformen) Norm“ verstärken. Jugendliche müssen auch dann auf Alternativen ausweichen, wenn ihnen nur ein eingeschränktes berufliches Spektrum zur Verfügung steht, das aufgrund der Konkurrenz anderer Jugendlicher mit gleichen oder höheren Qualifikationen stark nachgefragt wird. Im Gegensatz zu den ersten beiden Mechanismen können solche Ausweichbewegungen auch in die Richtung einer abnehmenden Geschlechterkonformität verlaufen.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen nimmt der vorliegende Beitrag den Bewerbungsprozess junger Frauen und Männer in Deutschland in den Blick und untersucht, ob, wie und wann die Geschlechtstypik der von ihnen angestrebten und erreichten Berufe von ihren realistischen Berufsaspirationen abweicht. Wir betrachten Schülerinnen und Schüler in Haupt- und Realschulzweigen, weil Absolventinnen und Absolventen dieser Schulformen die Hauptzielgruppe für duale und schulberufliche Ausbildungsgänge bilden. Wir stellen damit den Prozess der Formation vergeschlechtlichter Berufswahlentscheidungen in einer kurzen, kritischen Entscheidungsphase in den Mittelpunkt, die mit Beginn der Ausbildung endet (vgl. dazu Heckhausen und Tomasik 2002). Wir fragen erstens: In welchem Umfang haben junge Frauen und Männer geschlechtstypische realistische berufliche Aspirationen, bewerben sich auf geschlechtstypische Berufe und münden in erste geschlechtstypische Ausbildungsberufe ein? Dabei untersuchen wir zweitens auch Richtung und Timing der Kompromissbildung: Sind Abweichungen von den Aspirationen bereits mit Eintritt in die Bewerbungsphase wahrscheinlich oder zum Ende, wenn der Druck steigt, einen Ausbildungsplatz zu bekommen? Und ist die Berufswahl der Jugendlichen im Bewerbungsverlauf tatsächlich immer geschlechtstypischer als ihre realistischen Aspirationen? Drittens untersuchen wir, welchen Einfluss Ressourcen der Jugendlichen, wie Schulabschluss, Noten und soziale Herkunft, auf die Differenz der Geschlechtstypik von Aspirationen und Berufswahlentscheidungen nehmen.

Empirisch beschreiben wir Abweichungen in der Geschlechtertypik von realistischen Berufsaspirationen, den Bewerbungsberufen und dem ersten Ausbildungsberuf nach Ende der Schulzeit und schätzen die Einflüsse von Ressourcen mit Mehrebenenmodellen. Grundlage für die Analysen ist eine Längsschnittbefragung Jugendlicher im Schulentlassjahr in einer westdeutschen Stadt aus dem Jahr 2011/2012, die Informationen zu realistischen Berufsaspirationen, Bewerbungsberufen in der ersten und der letzten Bewerbungsphase sowie zum ersten Ausbildungsberuf enthält und es damit ermöglicht, den Bewerbungsprozess zu modellieren.

2 Berufswahl als vergeschlechtlichter Prozess

2.1 Die Entstehung der Geschlechtergrenzen von Berufen

Das Geschlecht stellt neben wenigen anderen Basiskategorien ein primäres kulturelles Schema für die effektive Koordination sozialer Interaktionen dar, indem Personen unbewusst ad hoc geschlechtlich kategorisiert und damit als zugehörig oder abweichend zum Selbst eingeordnet werden. Damit wird Geschlecht zu einer Hintergrundkategorie, die bewirkt, dass das Verhalten von Anderen auch dann geschlechtlich bewertet und verzerrt wahrgenommen wird, wenn diese Akteure andere Rollen einnehmen (West und Zimmerman 1987). „Gender status beliefs“, gesellschaftlich geteilte Überzeugungen darüber, was Frauen und Männer unterscheidet, was sie besonders gut und schlecht können, und was das für ihren sozialen Status bedeutet, erlangen dadurch eine überaus starke Persistenz, die auch bewirkt, dass Abweichungen von geschlechtlichen Normen sanktioniert werden (Ridgeway 2009). Da „gender status beliefs“ Überzeugungen über grundlegende Eigenschaften von Männern und Frauen beinhalten, sind sie anschlussfähig zu Stereotypen über die Passung von Berufen, die diese Fähigkeiten erfordern.

Kinder erlernen und internalisieren geschlechtliche Stereotype, Normen und den sozialen Umgang mit Normabweichungen im Prozess der Sozialisation (Bian et al. 2017; Marini und Brinton 1993). Kulturelle Geschlechterstereotype werden über Medien, Institutionen, Gleichaltrige und insbesondere die Eltern transportiert, weil diese Rollenvorbilder sind. Eltern beeinflussen durch die Arbeitsteilung im Haushalt und ihre Berufe die Vorstellungen ihrer Kinder über Berufe und übertragen ihre eigenen Stereotype auf deren Aspirationen, indem sie sie mit Informationen über Berufe versorgen und sie bei der Berufswahl beraten (Buchmann und Kriesi 2012). Empirisch wurden diese Transmissionswege allerdings nur partiell belegt (Busch 2013; Buchmann und Kriesi 2012; Kaiser und Schels 2016; Helbig und Leuze 2012; Abraham und Arpagaus 2008; Polavieja und Platt 2014).

Die Hintergrundannahmen über das Geschlecht prägen auch in der Schule die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten (Correll 2001). So finden sich im akademischen Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern Geschlechterunterschiede zu Fächern, die kulturell als männlich oder weiblich gelten (Correll 2001; Nagy et al. 2010; Parker et al. 2014), obwohl es nur relativ geringe Kompetenzunterschiede zwischen ihnen gibt (Jerrim und Schoon 2014). Die Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten beeinflusst das Fachinteresse, die Lernmotivation und damit auch spätere Leistungen (Correll 2001; Marsh et al. 2005). Längerfristig scheint auch die angestrebte berufliche Karriere vom akademischen Selbstbild beeinflusst zu werden (Correll 2001; Parker et al. 2014; Wang 2012). Im Ergebnis zeigen Mädchen und Jungen bereits in hohem Maß geschlechtstypische Berufswünsche, bevor sie mit den Realitäten des Ausbildungsmarkts konfrontiert werden.Footnote 1

2.2 Anpassungsprozesse in der Bewerbungsphase

Da sich Jugendliche im Prozess der Berufsfindung mit gegebenen Arbeitsmarktstrukturen auseinandersetzen müssen, verändern sie ihre Aspirationen, sobald sich die Muster der beruflichen Segregation verändern (Xie und Shauman 1997), und wählen auch geschlechteruntypische Berufe, wenn sich dort Zugangsmöglichkeiten ergeben (Jacobs 1989). Zum dynamischen Zusammenhang von Aspirationen, Bewerbungsverhalten und Berufsplatzierung gibt es vor allem in der Psychologie theoretische Ansätze, die bislang allerdings nur in Teilen empirisch überprüft worden sind (für einen Überblick vgl. Sharf 2013). Für unsere Überlegungen erscheint der Ansatz von Gottfredson (2002) besonders geeignet, da dieser auf die Geschlechtstypik von Berufen eingeht und die Opportunitätsstrukturen berücksichtigt, denen Jugendliche gegenüberstehen.

Der Prozess der Berufswahl baut nach Gottfredson (2002) auf einer kognitiven Landkarte von Berufen auf, die eng mit dem Selbstkonzept von Individuen verbunden ist. Kinder und Jugendliche müssen sukzessive entscheiden, welche Berufe kompatibel zu ihrem Selbstbild, für sie erreichbar und verfügbar sind. Diese Anpassungsprozesse beschreibt Gottfredson (2002) mit zwei Konzepten: Beschneidung („circumscription“) und Kompromissbildung („compromise“). Im Prozess der Beschneidung weisen Kinder und Jugendliche berufliche Alternativen zurück, die ihnen unakzeptabel erscheinen. Schon im Alter von 6 bis 8 Jahren entwickeln sie Vorstellungen von der Geschlechtlichkeit von Berufen und setzen Geschlechtergrenzen in ihren Aspirationen. Im Prozess der Kompromissbildung, den wir in unserem Beitrag untersuchen, verwerfen sie dann ihre am stärksten präferierten Berufswünsche und wählen stattdessen erreichbare und verfügbare Alternativen. Das heißt, in dieser Phase passen sie ihre Aspirationen an die externen Realitäten auf dem Ausbildungsmarkt an. Nach Gottfredson leiten einige zentrale Prinzipien die Kompromissbildung, die darauf beruhen, dass das nach außen sichtbare soziale Selbst stärker geschützt wird als das innere Selbst. Da eine deutliche Überschreitung der selbst gesetzten Geschlechtergrenze als größere Bedrohung empfunden wird als eine Überschreitung von Statusgrenzen oder Interessen, wird diese am stärksten geschützt.

Die Phase der Kompromissbildung wird im Bewerbungsprozess forciert. Dieser stellt ein relativ enges Zeitfenster für berufliche Entscheidungen dar (Heckhausen und Tomasik 2002), aus denen sich meist nachhaltige Konsequenzen für das weitere Leben ergeben. Gottfredson (2002, S. 91) unterscheidet wie viele andere (vgl. z. B. Wicht und Ludwig-Mayerhofer 2014) zwischen idealistischen Aspirationen, den Berufswünschen, die noch unbeeinflusst sind vom Wissen um Hürden und Opportunitäten, und realistischen Aspirationen (oder Erwartungen), die ein erstes Ergebnis der Kompromissbildung darstellen. In diesem Beitrag interessiert uns, ob Jugendliche mit Beginn der Bewerbungsphase, wenn sie ihre Berufswahlentscheidung konkretisieren müssen, bis zum Eintritt in eine erste Ausbildung weitere Kompromisse eingehen. Die Bewerbungsberufe stellen Berufswahlentscheidungen in Form antizipierter Marktoptionen dar, die sich in einer ersten Handlung manifestieren. Sie bilden die Voraussetzung für eine Platzierung auf dem Ausbildungsmarkt. Der Ausbildungsberuf bildet dann die erste manifestierte Berufswahl, die realisierte Marktoption.

Es gibt bislang nur relativ wenige Studien, die sich auf der Basis von Längsschnittdaten mit der Anpassung beruflicher Aspirationen in der Phase der Kompromissbildung beschäftigt haben. Heckhausen und Tomasik (2002) konnten zeigen, dass Jugendliche dann, wenn ein Übergang naht, ihre Aspirationen stärker auf Berufe eingrenzen, die realisierbar erscheinen. Insbesondere passen sie das Prestige ihrer Wunschberufe an ihre Leistungen an. Jugendliche in der Schweiz passen nach Hirschi und Vondracek (2009) ihre Aspirationen vor allem stark an Opportunitäten der Umwelt an, weniger stark an ihre Leistungen und meist gar nicht an eigene Interessen. Auch mit englischen Daten wurde gezeigt, dass viele Jugendliche berufliche Aspirationen und Erwartungen entwickeln, die nicht ihren Leistungen und damit ihren tatsächlichen beruflichen Möglichkeiten entsprechen. Angleichungsprozesse finden bei einigen, aber nicht bei allen Jugendlichen statt (Khattab 2014, 2015).

Weniger Ergebnisse finden sich dazu, was diese Anpassungsprozesse für die Geschlechtstypik der Aspirationen von Jugendlichen bedeuten. Eine US-amerikanische Studie zur Entwicklung von Berufswünschen von der 2. bis zur 12. Klasse (Helwig 2011) zeigt, dass Kinder bereits mit 8 Jahren sehr geschlechtstypische Berufswünsche haben. Ähnliche Befunde werden in einer älteren Studie mit zwei Messzeitpunkten im Alter von 8 bis 13 Jahren und 13 bis 18 Jahren (Sandberg et al. 1991) berichtet. Hier haben Jungen anfangs deutlich geschlechtstypischere idealistische Wunschberufe als Mädchen und behalten diese stärker bei. Junge Frauen passen dagegen ihre realistischen Aspirationen stärker an externe Opportunitäten an und gelangen dadurch in geschlechtstypischere Zielberufe. Ähnlich zu diesen Ergebnissen können Buchmann und Kriesi (2012) mit Längsschnittdaten für die Schweiz zeigen, dass die Geschlechtstypik des Wunschberufs vor allem bei Männern stark die Geschlechtstypik des Lehrberufs beeinflusst. Zudem weichen Männer meist auf andere männerdominierte Berufsgruppen aus, wenn sie in ihren Wunschberufen nicht zum Zug kommen. Hirschi und Vondracek (2009) kommen dagegen zum Ergebnis, dass die Anpassungsleistungen von Männern in der Schweiz in der Bewerbungsphase höher sind als die von Frauen. Bei Frauen findet sich eine negative, bei Männern dagegen eine positive Korrelation zwischen der Anpassung an die eigenen Interessen und an externe Opportunitäten. Die Autoren schließen daraus, dass junge Frauen öfter einen Konflikt zwischen externen Anforderungen und Interessendurchsetzung erleben, junge Männer aufgrund ihrer privilegierten Position im Ausbildungsmarkt dagegen nicht. Die Antizipation späterer Lebens- und Arbeitsbedingungen kann ein weiterer Faktor sein, der eine Kompromissbildung „zurück zur Norm“ begünstigt. Er scheint jedoch weniger bedeutsam zu sein als internalisierte Geschlechterstereotypen (z. B. Pollmann-Schult 2009; Cech 2016; Ochsenfeld 2016).

In der Summe bestätigen die vorliegenden Studien, dass Jugendliche im Bewerbungsprozess ihre Aspirationen an exogene Opportunitäten anpassen, insbesondere, wenn sie früh mit Marktstrukturen in dualen Systemen konfrontiert sind. Junge Männer haben häufiger als junge Frauen geschlechtstypische Wunschberufe. Dieser Befund deutet darauf hin, dass sich die Akzeptanzspanne von Berufen für Frauen im Zuge der Detraditionalisierung westlicher Gesellschaften deutlicher erweitert hat als für Männer. Ob die Anpassungsleistungen bei Frauen oder Männern stärker sind, dazu gibt es widersprüchliche Befunde. Zu vermuten ist, dass sich erst dann systematische Muster zeigen, wenn sowohl externe Opportunitäten im Kontext des deutschen Systems der Berufsausbildung als auch Ressourcen der Jugendlichen berücksichtigt werden.

3 Opportunitätsstrukturen und Ressourcen

3.1 Segregierte Ausbildungsmärkte

Schülerinnen und Schüler an Haupt- und Realschulzweigen in Deutschland sind zum Ende der Schulzeit mit zwei gekoppelten Entscheidungen konfrontiert, deren Erfolgschance stark von exogenen Opportunitäten abhängig ist. Einerseits müssen sie entscheiden, ob sie eine weiterführende Schule besuchen, um einen höheren Schulabschluss zu erwerben, oder ob sie eine berufliche Ausbildung aufnehmen.Footnote 2 Im zweiten Falle müssen sie sich für einen der rund 420 dual oder schulisch organisierten Ausbildungsberufe (Bundesinstitut für Berufsbildung 2018) entscheiden und sich um eine begrenzte Anzahl von Ausbildungsplätzen bewerben.

Das Berufsausbildungssystem in Deutschland ist stark geschlechtersegregiert (Imdorf et al. 2016). Diese Trennung hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert (Bundesinstitut für Berufsbildung 2018, S. 106). Von Männern dominierte Ausbildungsberufe finden sich im Handwerk, auf dem Bau, in der industriellen Produktion sowie in technischen, logistischen und Sicherheitsberufen. Geschlechtergemischte Berufsfelder liegen in Verkauf und Handel, Tourismus und Gastronomie, in betriebswirtschaftlichen Berufen, Marketing und Werbung sowie in Finanzdienstleistungen, Rechnungswesen und Steuerberatung. Im dualen System sind Frauen in nur wenigen Berufen überrepräsentiert, so in den meisten Einzelhandelsberufen, in Büro- und Verwaltung sowie den personenbezogenen Dienstleistungen (Körperpflege, Hauswirtschaft).Footnote 3 Von Frauen dominierte Ausbildungsmarktsegmente liegen in sozialen, Erziehungs‑, Pflege- und Gesundheitsberufen (Bundesinstitut für Berufsbildung 2018, S. 186). Ausbildungsberufe mit hohen Männeranteilen sind durchgehend dual organisiert, während viele der „klassischen“ Frauenausbildungsberufe schulisch organisiert sind (Krüger 2003).

Der Zugang zu Schulberufen ist stärker als im dualen System von formalisierten meritokratischen Prinzipien abhängig und erfordert oft einen mittleren Schulabschluss. Die Bewerbung auf betriebliche Ausbildungsplätze unterliegt dagegen, rein formal, keinen qualifikatorischen Zugangsvoraussetzungen. Betriebe entscheiden vielmehr selbst, welche Jugendliche sie einstellen. Damit unterliegen Bewerbungsprozesse hier potenziell besonders stark einem geschlechtsspezifischen Rekrutierungsverhalten von Gatekeepern (Protsch 2014). Gerade in kleinbetrieblichen Strukturen kommt dem Prinzip der Homophilie eine große Rolle zu. Einerseits besteht die Befürchtung, dass andersgeschlechtliche Auszubildende die betrieblichen Abläufe stören könnten, andererseits bestehen gerade in stark segregierten Betrieben Geschlechterstereotype, die zu einer statistischen Diskriminierung führen können (Imdorf 2012). Zudem teilen auch Auswahlverantwortliche die oben dargestellten kulturellen Überzeugungen, die dazu führen, dass sie Bewerberinnen und Bewerber mit ähnlichen Profilen je nach Geschlecht und Zielberuf unterschiedlich bewerten. Und selbst wenn Jugendliche in geschlechtsuntypischen Berufen zum Zug kommen, wird von ihnen erwartet, dass sie sich an die Betriebskulturen anpassen, was zu einer negativen Selbstselektion führen kann (Imdorf 2012). Empirisch zeigt sich denn auch, dass junge Frauen und Männer in Deutschland bessere Übergangschancen in eine Ausbildung haben, wenn sie sich auf geschlechtstypische Berufe bewerben (Beicht und Walden 2014).

Insgesamt nimmt der Einfluss von Dritten, insbesondere von Ausbildungseinrichtungen, im Bewerbungsverlauf kontinuierlich zu, und dies am deutlichsten bei Eintritt der Jugendlichen in den Markt. Aufgrund der starken Persistenz geschlechtlicher Statusannahmen, die prinzipiell von allen Akteuren geteilt werden, mit denen Jugendliche interagieren, sollten diese Einflüsse in der Summe zu einer Verstärkung geschlechtstypischer Berufsziele führen. Wir nehmen folglich an, dass Bewerbungen geschlechtstypischer sind als die Aspirationen der Jugendlichen, Bewerbungen zum Ende des Bewerbungsverlaufs geschlechtstypischer als am Anfang und Ausbildungsberufe geschlechtstypischer als Bewerbungsberufe (Hypothese 1).

3.2 Die Rolle von Ressourcen

Den Ressourcen von Jugendlichen kommt eine strukturierende Funktion in den Anpassungsprozessen zu, die sich auf die Entwicklung der Geschlechtstypik in ihren präferierten Berufen auswirken kann. Einerseits wirken Ressourcen als Signale, die von Auswahlverantwortlichen herangezogen werden und den Platz der Jugendlichen in der Bewerberwarteschlange bestimmen (Reskin und Roos 2009). Andererseits beeinflussen sie die Selbstselektionsprozesse der Jugendlichen über intraindividuelle Prozesse, wie die subjektiv wahrgenommene Erfolgschance oder die Vermeidung kognitiver Dissonanz, über interindividuelle Prozesse der Einflussnahme durch Gleichaltrige, Eltern oder Beratungsinstanzen oder über negative Rückmeldungen in der Bewerbungsphase.

Das wichtigste Signal auf dem Ausbildungsmarkt stellt in Deutschland der Schulabschluss dar. Unabhängig vom Geschlecht sind die Ausbildungschancen von Hauptschülerinnen und -schülern in den letzten Dekaden gesunken (Kleinert und Jacob 2012). Diese Entwicklung ist nicht allein mit gestiegenen Anforderungen zu erklären, sondern diese Gruppe ist auch zunehmend von Diskriminierungs- und Diskreditierungsprozessen betroffen (Protsch 2014). Insbesondere bei jungen Frauen strukturiert diese Schulform den Zugang zu beruflichen Optionen (Imdorf et al. 2016). Viele der stark von Männern dominierten Ausbildungsberufe sind offen für Hauptschüler. Hauptschülerinnen konkurrieren dagegen in sehr wenigen Frauenberufen miteinander, da viele attraktive frauentypische Berufe einen Realschulabschluss erfordern. Protsch (2014) zeigt weiter, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler gute Mathematiknoten benötigen, um ihre Ausbildungschancen positiv zu beeinflussen, während diese bei Realschülerinnen und Realschülern keine so große Rolle spielen. Auch dieser Umstand sollte bei jungen Männern aus Hauptschulen eher dazu führen, dass sie geschlechtstypische Berufsaspirationen in der Bewerbungsphase weiterführen. Von daher nehmen wir an, dass unter jungen Männern die Kompromissbildung „zurück zur Norm“ bei Hauptschülern stärker ausgeprägt ist als bei Realschülern. Bei jungen Frauen gehen wir dagegen nur bei Realschülerinnen von dieser Richtung der Kompromissbildung aus. Bei Hauptschülerinnen erwarten wir umgekehrt Entscheidungen für weniger geschlechtstypische Berufe, weil diese Gruppe geschlechtstypische Aspirationen aufgrund von Engpässen auf dem Ausbildungsmarkt und Prozessen der Diskreditierung oftmals nicht umsetzen kann (Hypothese 2).

Noten bilden einen zweiten wichtigen Indikator für die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bewerbungen (Abraham und Arpagaus 2008). Eine gute Mathematiknote gilt darüber hinaus in Betrieben als Erfolgsvoraussetzung für typisch männliche Berufe, eine gute Deutschnote für typisch weibliche Berufe. Ähnliche Zuschreibungsprozesse geschehen auch bei den Jugendlichen selbst. So beeinflussen Fachnoten das akademische Selbstkonzept, und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten wirkt sich wiederum auf die Erfolgserwartung und Leistungsmotivation aus und beeinflusst damit die Noten (Correll 2001; Eccles 1994). Im Bewerbungsprozess bilden Noten wichtige rationale Entscheidungskriterien für die Jugendlichen, indem sie die Wahrnehmung von Erfolgswahrscheinlichkeit, Kosten und Nutzen unterschiedlicher Ausbildungsgänge beeinflussen (Jonsson 1999). Besonders wichtig ist der komparative Vorteil, der entsteht, wenn eine Person bessere Leistungen in einer Domäne aufweist als in einer anderen (Eccles 1994; Jonsson 1999). Die bisherige Forschung zeigt, dass die relativen Fachnoten in Deutsch und Mathematik die Geschlechtstypik der Berufswünsche (Helbig und Leuze 2012), der Studienfachwahl (Jonsson 1999) sowie der Ausbildungsgänge von Jugendlichen beeinflussen (Imdorf et al. 2016). Ausgehend von diesen Befunden nehmen wir folgende Zusammenhänge an: Je besser bei Männern die Mathematiknote im Vergleich zur Deutschnote ausfällt, desto geschlechtstypischer sind ihre Berufsaspirationen und desto geringer ist die Abweichung der Berufswahlentscheidungen von diesen Aspirationen im Bewerbungsprozess und bei der Platzierung in Ausbildung. Das Gleiche gilt für Frauen, je besser ihre Deutschnote im Vergleich zur Mathematiknote ist (Hypothese 3).

Eine weitere Ressource, die die Ausbildungsentscheidungen Jugendlicher beeinflusst, ist die soziale Herkunft. Eltern sind der wichtigste Sozialisationsagent, indem sie Geschlechterrollen vorleben, berufliche Vorbilder sind und ihre Einstellungen an ihre Kinder weitergeben. In diesen Dimensionen finden sich systematische Unterschiede zwischen sozialen Schichten. Höhere und besser gebildete Statusgruppen zeichnen sich durch egalitärere Geschlechterrolleneinstellungen aus (Davis und Greenstein 2009). Imdorf et al. (2016) können entsprechend zeigen, dass eine hohe soziale Herkunft die Wahrscheinlichkeit einer geschlechtstypischen Ausbildung verringert. Höher gebildete Eltern sind außerdem besser über die Karriere- und Einkommensmöglichkeiten unterschiedlicher Berufe informiert und beraten ihre Kinder entsprechend. Die Tatsache, dass typische Frauenberufe hier eher benachteiligt sind, könnte bedeuten, dass höhergebildete Eltern ihren Kindern, unabhängig vom Geschlecht, abraten, diese Berufe zu wählen (Dryler 1998). Für die Annahme eines geschlechterdifferentiellen Effekts spricht auch die Tatsache, dass Geschlechterrollenmuster vor allem für Frauen durchlässiger geworden sind. Entsprechend zeigen Helbig und Leuze (2012), dass nur Mädchen, nicht aber Jungen aus höheren Schichten geschlechtsuntypische Berufe präferieren. Ausgehend von diesen Überlegungen nehmen wir an, dass sich Jugendliche aus höheren Statusklassen seltener auf geschlechtstypische Berufe bewerben und diese antreten und dass ihre Bewerbungs- und Ausbildungsberufe mit geringerer Wahrscheinlichkeit von ihren Aspirationen abweichen als bei Jugendlichen aus niedrigeren Klassen (Hypothese 4a). Alternativ zu dieser Globalhypothese lässt die bisherige Literatur auch erwarten, dass sich differentielle Herkunftseffekte nur bei jungen Frauen zeigen, nicht aber bei jungen Männern (Hypothese 4b).

4 Daten und Methoden

4.1 Datenbasis, Studienort und Analysestichproben

Wir prüfen unsere Hypothesen mit Daten einer lokal begrenzten Längsschnittstudie aus dem Jahr 2011/2012, in der das Bewerbungsverhalten von Schülerinnen und Schülern in den Abgangsklassen an Haupt- und Realschulen in einer bayrischen Stadt erhoben wurde. Diese Datenbasis ermöglicht es, die Berufsziele der Jugendlichen von ihren Aspirationen zu Beginn des Schulentlassjahres über zwei Zeitpunkte im Bewerbungsprozess bis hin zum ersten Ausbildungsberuf nach Ende der Schulzeit zu verfolgen. Anders als in bundesweit angelegten Längsschnittstudien, wie z. B. der Startkohorte Klasse 9 des Nationalen Bildungspanels (NEPS-SC4), wurden hier Aspirationen der Jugendlichen vor Beginn der Bewerbungsphase gemessen, die anschließenden Bewerbungen breit gefasst und für alle Befragten abgefragt und Zielberufe in der frühen und späten Bewerbungsphase zeitgenau und vollständig erfasst. Damit können die Bewerbungsprozesse in ihrer zeitlichen Lagerung genau rekonstruiert werden und der Entwicklungsprozess der Geschlechtstypik beruflicher Ziele lässt sich in der kurzen Entscheidungsphase vor der Aufnahme einer Ausbildung besonders gut modellieren.

Bei der Interpretation der Ergebnisse sind allerdings die räumliche Eingrenzung und Besonderheiten des regionalen Ausbildungsmarkts zu beachten. Die Studie beschränkt sich auf einen großstädtischen Raum mit günstigem Ausbildungsmarkt, der sich durch relativ viele Großbetriebe, einen starken tertiären Sektor und eine mittlere Arbeitslosenquote auszeichnet. Der Konkurrenzdruck unter den Jugendlichen ist aufgrund kleiner Schulabgangskohorten und hoher Abiturientenquoten relativ gering. Ähnliche Bedingungen finden sich in anderen Kernstädten Westdeutschlands (Kleinert und Kruppe 2012). Besonderheiten des lokalen dualen Ausbildungsmarkts sind der starke Berufsbereich in Naturwissenschaft und Informatik, Gesundheit und Sozialem sowie Kultur und Gestaltung (Bundesagentur für Arbeit 2014).Footnote 4

Die Befragung wurde für alle städtischen Schulen vor Ort bewilligt.Footnote 5 Die ausgewählten Jugendlichen wurden erstmals im September 2011 im Klassenraum schriftlich befragt, als sie sich in der 9. Jahrgangsstufe an regulären Hauptschulzweigen befanden oder in der 10. Klasse an Schulzweigen, die zu einer Mittleren Reife führen. Weitere Erhebungen folgten zum Zwischenzeugnis im März 2012 (schriftlich postalisch) und nach Ende des Schulentlassjahres im Herbst 2012 (telefonisch, schriftlich postalisch, wenn telefonisch nicht erreichbar). Für die Analysen werden Informationen aus der 1. und 3. Welle genutzt. In der 1. Welle wurden Berufsaspirationen, Schulleistungen, Berufsorientierung und Bildungsaspirationen sowie Basisangaben zu Haushalt und Familie erhoben. In der 3. Welle standen der aktuelle Status sowie der Bewerbungsprozess im letzten Schuljahr im Fokus. Die Jugendlichen wurden zu den Zielberufen und Datum der ersten und letzten drei Bewerbungen in diesem Zeitraum befragt. Es wurden explizit Bewerbungen für Ausbildungsstellen in Betrieben und an Schulen erfragt. Zudem nutzen wir Angaben aus der Befragung eines Elternteils, die einmalig im Herbst 2011 durchgeführt wurde (schriftlich postalisch sowie telefonisch, sofern postalisch nicht erreichbar). In der 1. Befragung wurden insgesamt 1429 Jugendliche in 74 Klassen an 23 Schulen erreicht. 800 davon nahmen auch an der 3. Welle teil (56 %). In der Elternbefragung wurden 925 Interviews realisiert.

In unsere Analysen gehen die Jugendlichen ein, die an der 3. Welle teilgenommen und sich im letzten Schuljahr mindestens einmal auf eine Ausbildung beworben haben. 34 % der Befragten haben sich im Beobachtungszeitraum nie beworben, weitere 3 % haben keine vollständigen Angaben zu ihren Bewerbungen gemacht. Da wir in unserer Analyse den Berufswahlprozess ausgehend von den Aspirationen betrachten, wurden 154 Personen ausgeschlossen, die sich bereits vor dem Schulentlassjahr erstmals beworben hatten,Footnote 6 sowie 78 Personen, die keine Angaben zu ihren Aspirationen gemacht haben.Footnote 7 Unsere Analysestichprobe umfasst damit insgesamt 266 Personen, von denen sich 148 im Herbst 2012 in einer Berufsausbildung befanden. Um das Bewerbungsverhalten in Relation zum Ausbildungsberuf zu setzen, werden die Analysen auch für diese bedingte Teilstichprobe durchgeführt. So kann geprüft werden, wie robust die Ergebnisse zum Bewerbungsverhalten sind und ob Jugendliche, die in eine Ausbildung eintreten, im Vergleich zu allen Bewerbern und Bewerberinnen spezifische Aspirationen aufweisen.

Aus den Angaben aus der Befragung haben wir einen unbalancierten Paneldatensatz über maximal vier Beobachtungszeitpunkte konstruiert, mit dem sich die Geschlechtstypik (1) der realistischen BerufsaspirationenFootnote 8 zu Beginn des Schulentlassjahres, (2) der maximal drei Berufe, auf die sich die Jugendlichen in der ersten Bewerbungsphase beworben haben, (3) der maximal drei Berufe am Ende des Bewerbungsprozesses (wenn vorhanden) und (4) des Ausbildungsberufs im Herbst 2012 (wenn vorhanden) abbilden lässt. Die Daten haben eine hierarchische Struktur, in der in den beiden beobachteten Bewerbungsphasen auch berufliche Alternativen mit unterschiedlicher Geschlechtstypik berücksichtigt sind, wenn sich Jugendliche auf mehrere Berufe zeitgleich beworben haben. Je nach Phase und Geschlecht betrifft dies 5 bis 12 % der Jugendlichen in unserem Sample. Insgesamt enthält der Analysedatensatz 1136 Berufsbeobachtungen für 266 Bewerberinnen und Bewerber sowie 798 Beobachtungen für die Teilgruppe der 148 Jugendlichen mit einem Ausbildungsplatz im Herbst 2012.

4.2 Methoden und Variablen

In den folgenden Abschnitten werden Verteilungen und Veränderungen der Geschlechtstypik im Bewerbungsprozess beschrieben und multivariate Analysen zum Einfluss von Ressourcen auf diese Veränderungen vorgestellt. Alle Berufsangaben – zu realistischen Aspirationen, Bewerbungsberufen und Ausbildungsberuf – wurden offen erfragt und nach der ISCO 2008 vercodet. Über den ISCO-Dreisteller wurden Angaben zum Frauenanteil an allen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus dem Jahr 2010 zugespielt. Auf dieser Basis wurden drei Gruppen zusammengefasst: (1) geschlechtstypische Berufe, bei denen die Erwerbstätigen im Beruf zu 70 % oder mehr dem eigenen Geschlecht entsprechen; (2) geschlechtsuntypische Berufe mit 30 % oder weniger Erwerbstätigen mit dem gleichen Geschlecht und (3) Mischberufe mit einem Frauenanteil mit mehr als 30 und weniger als 70 %. In den deskriptiven Analysen werden aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht die Informationen von mehreren gleichzeitigen Bewerbungsberufen berücksichtigt; hier beziehen wir uns stets auf den Beruf mit der höchsten Geschlechtstypik.Footnote 9

In den multivariaten Analysen nutzen wir alle Berufsangaben in der hierarchischen Datenstruktur und schätzen Mehrebenenmodelle. Wir spezifizieren Random-Coefficient-Modelle mit Cross-Level-Interaktionen (z. B. Rabe-Hesketh und Skrondal 2008). Die binäre abhängige Variable zeigt an, ob der von den Jugendlichen genannte Beruf ein geschlechtstypischer Beruf ist oder nicht. Die zentrale erklärende Variable auf Ebene 1 erfasst die Beobachtungszeitpunkte über das Schulentlassjahr. So werden in der Schätzung Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit abgebildet, eine geschlechtstypischere Berufswahlentscheidung im Bewerbungsprozess und bei der Platzierung in Ausbildung in Relation zur realistischen Berufsaspiration (Referenzkategorie) zu treffen. Diese Differenzen werden als Kompromissbildung interpretiert. Da in die Modelle alle Bewerbungsberufe eingehen, auf die sich die Jugendlichen in der ersten oder letzten Bewerbungsphase gleichzeitig beworben haben, bilden die Schätzungen einen zum Bewerbungszeitpunkt gemittelten Wert ab. Die personenkonstanten erklärenden Variablen auf Ebene 2 sind die theoretisch interessierenden Ressourcen der Jugendlichen sowie ihr Migrationshintergrund als Kontrollgröße. Um die Hypothesen 2 bis 4 zu prüfen, schätzen wir Modelle mit Interaktionen zwischen Beobachtungszeitpunkt und den Variablen auf der Personenebene. Damit bestimmt das Modell sowohl Unterschiede im Ausmaß der Kompromissbildung als auch im Niveau der geschlechtstypischen Berufswahl zwischen den Personengruppen.Footnote 10 Die Analysen werden für junge Frauen und Männer getrennt durchgeführt. Aus Gründen der Vergleichbarkeit der Ergebnisse über verschiedene Modelle hinweg schätzen wir lineare Wahrscheinlichkeitsmodelle.

Mit Blick auf die schulische Laufbahn unterscheiden wir zwischen Jugendlichen, die im letzten Schuljahr auf einem Realschul- oder Hauptschulzweig sind. Schulleistungen beziehen sich auf die Noten aus dem Zeugnis des vorherigen Schuljahres. Um geschlechts(a)typische komparative Vorteile der Jugendlichen abzubilden, bilden wir die Differenz aus der Mathematik- und Deutschnote. Der soziale Hintergrund wird mit dem höchsten Schulabschluss der Eltern gemessen.Footnote 11 Ein niedriger Status umfasst Eltern mit maximal Hauptschulabschluss, ein mittlerer Status entspricht der Mittleren Reife und ein hoher Status Abitur. Fehlende Angaben zum Schulabschluss der Eltern wurden imputiert. Einen Migrationshintergrund haben Jugendliche, die nicht selbst in Deutschland geboren wurden oder eine andere Familiensprache als Deutsch angegeben haben. Die Verteilung der Variablen ist in Tab. 4 im Anhang dargestellt.

5 Ergebnisse

5.1 Veränderungen der Geschlechtstypik vom Wunsch- zum Ausbildungsberuf

Zunächst betrachten wir, zu welchen Anteilen die Berufsaspirationen, Bewerbungsberufe und ersten Ausbildungsberufe der Jugendlichen geschlechtstypisch, gemischt oder untypisch sind (Tab. 1). Insgesamt haben die Jugendlichen bereits zu Beginn des Schulentlassjahres mehrheitlich geschlechtstypische Aspirationen. Die Bewerbungs- und Ausbildungsberufe sind zu einem noch größeren Anteil geschlechtstypisch. Bei den jungen Frauen ist mit Beginn der Bewerbungsphase eine verstärkte Orientierung an geschlechtstypischen Berufszielen zu beobachten. So haben 65 % der Bewerberinnen geschlechtstypische Aspirationen, aber 84 % bewerben sich anfangs auf einen geschlechtstypischen Beruf (am Ende sind es 80 %). Von den Bewerberinnen, die eine Ausbildung antreten, befinden sich schließlich 86 % in einem geschlechtstypischen Beruf. Unter den jungen Männern zeigt sich dagegen eine graduelle Näherung an geschlechtstypische Berufe. Zu Beginn des Schulentlassjahres haben 55 % eine geschlechtstypische Aspiration. Zu Beginn des Bewerbungsprozesses bewerben sich 62 % auf geschlechtstypische Berufe, zum Ende 69 %, und unter den Auszubildenden sind schließlich 71 % in einem geschlechtstypischen Beruf.Footnote 12 In Einklang mit Hypothese 1 kommt es über den Bewerbungsprozess der Jugendlichen zu einer Verstärkung geschlechtstypischer Berufswahlentscheidungen im Vergleich zu den Aspirationen. Nur bei den jungen Männern ist es eher der erwartete sukzessive Prozess, bei den jungen Frauen findet mit Beginn der Bewerbungsphase ein Sprung „zur Norm“ statt.

Tab. 1 Geschlechtstypik der Wunschberufe, Bewerbungsberufe und Ausbildungsberufe, Spaltenprozente

Aspirationen, Bewerbungs- und Ausbildungsberufe der jungen Frauen sind zu einem höheren Anteil geschlechtstypisch als jene der jungen Männer. Die befragten jungen Frauen, die keinen geschlechtstypischen Beruf anstreben, finden sich überwiegend in Mischberufen; nur ein sehr kleiner Anteil strebt einen geschlechtsuntypischen Beruf an. Bei jungen Männern spielen geschlechtsuntypische Berufe eine größere Rolle. Für dieses Ergebnis, das im Gegensatz zu den Befunden anderer Studien steht, können zwei Erklärungen angeführt werden. Zum einen könnte dies an der Eingrenzung auf Bewerberinnen und Bewerber liegen. Betrachtet man die Befragten, die sich im Schulentlassjahr nicht beworben haben, dann haben hier die jungen Frauen häufiger geschlechtsuntypische realistische Aspirationen als die jungen Männer; das Gros der Aspirationen sind bei beiden Geschlechtern Mischberufe (vgl. Tab. 5 im Anhang). Dies weist darauf hin, dass die Entscheidung, sich überhaupt zu bewerben, eng mit beruflichen Aspirationen verknüpft ist. Junge Frauen mit geschlechtsuntypischen Berufszielen wollen überdurchschnittlich häufig weiter auf die Schule gehen. Zum anderen könnte die lokale Angebotsstruktur, etwa der ausgeprägte Gesundheits‑, Sozial- und Erziehungsbereich, die Aspirationen und Entscheidungen der Jugendlichen in spezifischer Weise prägen.

Von den jungen Männern, die sich im letzten Schuljahr auf Ausbildungsplätze bewerben, treten 57 % unmittelbar nach Ende des Schuljahres eine Ausbildung an; von den jungen Frauen 54 % (Tab. 2). Die Jugendlichen, die trotz Bewerbungen keine Ausbildung angetreten haben, besuchen weiterführende Schulen, wiederholen das letzte Schuljahr oder machen etwas anderes (z. B. Übergangsmaßnahmen, Jobben, Freiwilligendienste). Junge Männer und Frauen mit geschlechtstypischen Aspirationen treten überdurchschnittlich häufig in eine Berufsausbildung ein, während diejenigen, die gemischte oder geschlechtsuntypische Berufe angestrebt haben, zu höheren Anteilen schulische Alternativen wählen.

Tab. 2 Status nach Schulentlassjahr (im Herbst 2012) nach Geschlechtstypik der realistischen Aspirationen, Zeilenprozente

5.2 Einflüsse von Ressourcen

Im nächsten Schritt prüfen wir die Kompromissbildung in der Geschlechtstypik zwischen Aspirationen, Bewerbungs- und Ausbildungsberufen multivariat in getrennten Schätzungen für Männer und Frauen. Zur Beantwortung der Frage, ob Abweichungen der Geschlechtstypik in Abhängigkeit von den Ressourcen der Jugendlichen unterschiedlich variieren, wurden Mehrebenenmodelle mit Interaktionstermen zwischen den Beobachtungszeitpunkten und den Personenmerkmalen geschätzt. Die vollständigen Schätzmodelle sind in Tab. 6 im Anhang dargestellt. Die Abb. 12 und 3 zeigen die subgruppenspezifischen geschätzten Wahrscheinlichkeiten, dass die Jugendlichen geschlechtstypische Berufe als realistische Aspiration, als Bewerbungsberufe und als Ausbildungsberuf genannt haben, nach Schulzweig, Schulleistung und sozialer Herkunft. In Tab. 3 sind zudem in kursiv die Differenzen in den Bewerbungsberufen und im Ausbildungsberuf im Vergleich zu den Aspirationen oder zu den ersten Bewerbungen sowie Signifikanzniveaus ausgewiesen.

Abb. 1
figure 1

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten geschlechtstypischer Berufsnennungen, nach Schulzweig und Zeitpunkt im Übergangsprozess. Quelle: Von der Schule in den Beruf. Geschätzte Wahrscheinlichkeiten aus Modellen mit Interaktionstermen zwischen Schulzweig und Beobachtungszeitpunkt, kontrolliert für Schulleistungen, sozialen Status, Migrationshintergrund (vgl. Tab. 6 im Anhang)

Abb. 2
figure 2

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten geschlechtstypischer Berufsnennungen, nach Relation der Fachnoten und Zeitpunkt im Übergangsprozess. Quelle: Von der Schule in den Beruf. Geschätzte Wahrscheinlichkeiten aus Modellen mit Interaktionstermen zwischen Relation der Fachnoten und Beobachtungszeitpunkt, kontrolliert für Schulzweig, sozialen Status, Migrationshintergrund (vgl. Tab. 6 im Anhang)

Abb. 3
figure 3

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten geschlechtstypischer Berufsnennungen, nach sozialem Status und Zeitpunkt im Übergangsprozess. Quelle: Von der Schule in den Beruf. Geschätzte Wahrscheinlichkeiten aus Modellen mit Interaktionstermen zwischen sozialem Status und Beobachtungszeitpunkt, kontrolliert für Schulzweig, Schulleistungen, Migrationshintergrund (vgl. Tab. 6 im Anhang). Befunde für Bewerber mit Ausbildungsplatz nicht berichtet, da Gesamtmodell nicht signifikant

Tab. 3 Geschätzte Wahrscheinlichkeiten geschlechtstypischer Berufsnennungen über den Berufsfindungsprozess und differentielle Unterschiede zur realistischen Aspiration und ersten Bewerbungsberufen

Die Ergebnisse nach Schulform (Abb. 1, Tab. 3 oben) zeigen, dass Jugendliche in Hauptschulzweigen mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypische Aspirationen haben als Jugendliche in Realschulzweigen. Dieser Unterschied ist für beide Geschlechter signifikant. Ausgehend von diesem hohen Niveau bewerben sich männliche Hauptschüler zum Ende der Bewerbungsphase mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit auf einen geschlechtstypischen Beruf als zu Beginn der Bewerbungsphase oder bereits davor angestrebt. Die Befunde für die Realschüler zeigen dagegen keine signifikanten Unterschiede über die Zeit. Die Bewerber in der Teilgruppe mit Ausbildung haben geschlechtstypischere Aspirationen als alle Bewerber. Für Hauptschüler, die in Ausbildung eintreten, zeigen sich vergleichbare, aber weniger deutlich ausgeprägte Befunde als bei allen Hauptschülern. Für Realschüler mit Ausbildung zeigt sich gar ein gegenläufiger Trend: Sie bewerben sich zum Ende der Bewerbungsphase mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf einen geschlechtstypischen Beruf als zu Beginn oder als angestrebt. Dies deutet darauf hin, dass Realschüler, die unbedingt eine Ausbildung antreten wollen, bereit sind, sich auf weniger geschlechtstypische Berufe zu bewerben. Der realisierte Ausbildungsberuf unterscheidet sich allerdings weder bei Haupt- noch bei Realschulabsolventen signifikant von Aspirationen und ersten Bewerbungen. Das heißt, die Veränderungen im Bewerbungsverhalten junger Männer münden nicht in Veränderungen in der Geschlechtstypik ihrer Ausbildungsberufe.

Bei den jungen Frauen sehen wir, dass sich sowohl Hauptschülerinnen als auch Realschülerinnen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf geschlechtstypische Berufe bewerben als ihre Aspirationen waren. Im späteren Bewerbungsverlauf zeigen sich keine weiteren Veränderungen. Auch bei den Frauen zeigen Bewerberinnen mit Ausbildung geschlechtstypischere Aspirationen als die Gesamtgruppe. Hier ist außerdem zu sehen, dass Haupt- und Realschülerinnen schließlich auch in der Ausbildung geschlechtstypischere Berufe ergreifen als ursprünglich angestrebt.

Damit bestätigt sich Hypothese 2 nur in Teilen. Jugendliche an Hauptschulen orientieren sich generell stark an geschlechtstypischen Berufen, sowohl in ihren Aspirationen als auch in ihren Berufswahlentscheidungen. Wir finden zwar erwartungsgemäß, dass die Bewerbungs- und Ausbildungsberufe von Hauptschülern im Vergleich zu den Aspirationen geschlechtstypischer sind als bei Realschülern. Nicht bestätigt sich dagegen die Annahme, dass Hauptschülerinnen aufgrund des eingeschränkten geschlechtstypischen Berufsfelds auf weniger geschlechtstypische Berufe ausweichen.

Mit Blick auf die Relation der Fachnoten (Abb. 2, Tab. 3 Mitte) zeigt sich, dass junge Männer mit einem nichtgeschlechtskonformen Leistungsprofil, d. h. mit besseren Deutsch- als Mathematiknoten, zunächst mit geringerer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypische Aspirationen haben als Männer mit einem geschlechtskonformen komparativen Leistungsvorteil. Am Ende des Bewerbungsprozesses weist die erste Gruppe jedoch eine im Vergleich zu den Aspirationen signifikant erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, sich auf einen geschlechtstypischen Beruf zu bewerben. Ein vergleichbares Muster finden wir auch bei den Bewerbern, die im Herbst einen Ausbildungsplatz haben. Keinen statistischen Unterschied zwischen Aspirationen und Bewerbungsberufen oder Ausbildungsberuf finden wir erwartungsgemäß bei den jungen Männern, deren Mathematikleistungen besser waren als ihre Deutschleistungen. Damit bestätigt sich Hypothese 3 für die jungen Männer.

Bei den jungen Frauen haben Bewerberinnen mit besseren Mathematik- als Deutschleistungen ebenfalls mit relativ geringer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypische Aspirationen. Bewerbungsberufe sind hier aber unabhängig von der Leistungsrelation mit höherer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypisch. Dies gilt auch für Ausbildungsberufe. Für die Frauen bestätigt sich Hypothese 3 folglich nicht. Wir stellen zwar erwartungsgemäß Niveauunterschiede im Grad der Geschlechtstypik nach dem Leistungsprofil fest, Unterschiede zwischen Aspirationen und Berufswahlentscheidungen sind jedoch in beiden Leistungsgruppen ähnlich strukturiert.

Mit Blick auf die soziale Herkunft (Abb. 3, Tab. 3 unten) streben junge Männer aus höheren Statusgruppen in ihren realistischen Aspirationen tendenziell eher geschlechtstypische Berufe an als Männer aus niedrigeren Statusgruppen; die beobachtbaren Unterschiede sind jedoch nicht signifikant. Weiter bewerben sich junge Männer der unteren und mittleren Statusgruppen im Bewerbungsprozess mit höherer Wahrscheinlichkeit auf geschlechtstypische Berufe als ihre Aspirationen waren. Bei den Männern der höchsten Statusgruppe ist die Entwicklung im Bewerbungsprozess dagegen umgekehrt, hier sind die Bewerbungen mit geringerer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypisch als die Aspirationen. Die Unterschiede sind für diese relativ kleine Teilgruppe nicht signifikant. Für die Subgruppe der Bewerber mit Ausbildungsplatz ist das Gesamtmodell mit dem Interaktionsterm zwischen sozialer Herkunft und Zeitpunkt insignifikant. Dies bedeutet, dass die Bewerber, die in Ausbildung eintreten, insgesamt eine relativ homogene Gruppe sind, sodass die berücksichtigten Variablen kaum Abweichungen in der Geschlechtstypik zwischen Aspirationen, Bewerbungsberufen und Ausbildungsberuf erklären können.

Bei den Bewerberinnen zeigt sich, dass Frauen aus höheren Statusgruppen wie angenommen mit signifikant geringerer Wahrscheinlichkeit Aspirationen für einen geschlechtstypischen Beruf aufweisen als Frauen aus niedrigen Statusgruppen. Allerdings werden die Bewerbungen der jungen Frauen aus höheren Statusgruppen im Bewerbungsprozess deutlich geschlechtstypischer. Vergleichbare Differenzen zeigen sich auch bei jungen Frauen der mittleren Statusgruppe, nicht jedoch in der Gruppe der statusniedrigen Bewerberinnen. In der Substichprobe der Bewerberinnen mit Ausbildung zeigt sich ein ähnliches Bild. In den mittleren und höheren Statusgruppen ist insbesondere der Ausbildungsberuf signifikant geschlechtstypischer als die Aspirationen.

Hypothese 4a wird folglich von den Befunden nicht gestützt. Jugendliche aus höheren Statusgruppen haben nicht generell weniger geschlechtstypische Aspirationen und treffen im Vergleich dazu nicht seltener Berufswahlentscheidungen entlang der Norm als Jugendliche aus niedrigeren Statusgruppen. Wie in Hypothese 4b postuliert, scheint eine höhere soziale Herkunft dagegen eher mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit frauendominierter Berufsaspirationen in Verbindung zu stehen, und das bei jungen Männern und jungen Frauen. Abweichend von Hypothese 4b rücken statushohe Frauen jedoch im Bewerbungsprozess von diesen Zielen ab und landen am Ende bei ähnlich geschlechtstypischen Berufswahlentscheidungen wie Frauen aus niedrigeren Statusgruppen.

Dabei überrascht es zunächst, dass die soziale Herkunft in der vorliegenden Studie nicht zu deutlichen Unterschieden im Aspirationsniveau führt, wie das in bisheriger Forschung der Fall war (z. B. Wicht und Ludwig-Mayerhofer 2014). Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sich die Studie auf die Gruppe Jugendlicher an Haupt- und Realschulzweigen beschränkt, die realistische Berufswünsche haben und sich zum Ende der Schullaufbahn auf einen Ausbildungsplatz beworben haben. Da sich viele Jugendliche aus höheren sozialen Schichten für eine weiterführende Schule entscheiden, sind sie nicht in der Analyse enthalten. Zudem ist zu bedenken, dass soziale Herkunftseffekte stark über die Selektion in unterschiedliche Schulformen vermittelt sind.

6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

In diesem Beitrag wurde erstmals empirisch untersucht, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen Schülerinnen und Schüler an Haupt- und Realschulen in der Phase der Ausbildungsstellensuche geschlechts(un)typische Berufsaspirationen haben und in welchem Ausmaß sie an diesen in Bewerbungen und Ausbildungsberufen festhalten. In unseren theoretischen Überlegungen gingen wir davon aus, dass Jugendliche in der Bewerbungsphase Kompromisse bilden und zunehmend geschlechtskonforme Entscheidungen treffen, wenn sie mit den Opportunitätsstrukturen in Bildungsinstitutionen und auf segregierten Märkten sowie geschlechterkonformen Erwartungen von Entscheidern in Betrieben und beruflichen Schulen und anderen relevanten Interaktionspartnern konfrontiert werden.

Insgesamt bestätigen die Befunde, dass mit den Bewerbungsberufen und der Platzierung im ersten Ausbildungsberuf eine Kompromissbildung hin zur geschlechterkonformen Norm stattfindet. Allerdings spielen die Ressourcen der Jugendlichen dabei eine wichtige Rolle. Die beobachtbaren Unterschiede zwischen Aspirationen und Berufswahlentscheidungen beschränken sich auf bestimmte Gruppen unter den Jugendlichen, während bei anderen der Grad der Geschlechtstypik ihrer Aspirationen schon dem Niveau der Bewerbungsberufe entspricht. So wählen junge Frauen ab der ersten Bewerbung mit höherer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypische Berufe im Vergleich zu ihren Aspirationen als junge Männer, und das unabhängig vom Schultyp und Schulleistungen. Die Bewerbungsberufe der Männer entsprechen in der Geschlechtstypik häufiger den Aspirationen, und wenn nicht, dann sind sie zum Ende des Bewerbungsprozesses geschlechtstypischer. Junge Frauen aus höheren Statusgruppen haben eher geschlechtsuntypische Aspirationen, können diese im Prozess der Ausbildungssuche jedoch oftmals nicht realisieren. Unter jungen Männern gibt es bei den Hauptschülern stärkere Diskrepanzen zwischen Aspirationen und Bewerbungsberufen als bei den Realschülern, ebenso bei jungen Männern mit geschlechtsuntypischen Notenrelationen. In der Summe führen diese dazu, dass sich die Jugendlichen in ihren Berufswahlentscheidungen in immer geschlechtstypischere Berufsmuster einordnen. Insbesondere die Relation der Fachnoten und die soziale Herkunft bilden Mikromechanismen, die zur Persistenz beruflicher Segregation beitragen. Abweichungen von der Norm scheinen im Prozess der Kompromissbildung, in dem die Jugendlichen in steter Interaktion mit Betrieben, Schulen, Eltern und anderen relevanten Dritten stehen, sanktioniert zu werden.

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist allerdings zu beachten, dass die vorliegende Studie kein repräsentatives Abbild der Schulabgängerinnen und -abgänger in Deutschland darstellt. Aus der Forschung ist bekannt, dass Aspirationen, Berufswahlentscheidungen und Übergänge in Ausbildung von der regionalen Arbeitsmarktstruktur (Hartung et al. 2019; Hillmert et al. 2017; Kleinert 2015) und durch die Schulsysteme in den Bundesländern geprägt werden (Wicht und Ludwig-Mayerhofer 2014). Bezogen auf die Ergebnisse unserer Studie fallen zwei Ergebnisse auf, die auf die lokale Angebotsstruktur zurückzuführen sein könnten: erstens das höhere Niveau geschlechtstypischer Aspirationen und Berufswahlentscheidungen junger Frauen, und zweitens die Tatsache, dass sich Hauptschülerinnen nicht zunehmend auf weniger geschlechtstypische Berufe bewerben und in diese einmünden. Beide Ergebnisse könnten in ländlicheren Regionen, in Orten mit einem stärkeren sekundären Sektor oder in Regionen mit schwächeren Ausbildungsmärkten anders ausfallen. Dies sind wichtige Desiderate für weitergehende Forschung dazu, wie regionale Märkte und Strukturen geschlechtstypische Berufswahlentscheidungen prägen.

Insgesamt sind die Befunde in den Kontext eines komplexen Berufsfindungsprozesses einzuordnen, in dem Jugendliche gefordert sind, ihre Aspirationen zu konkretisieren und sich zu entscheiden, ob, wie oft und auf welche Berufe sie sich bewerben (vgl. dazu z. B. Holtmann et al. 2017) als auch Alternativen im Schulsystem zu prüfen. Ausmaß und Determinanten der Geschlechtstypik von Aspirationen und Berufswahlentscheidungen hängen dabei vom Zeitpunkt der Betrachtung und der Gruppe von Schülerinnen und Schülern ab, die im Fokus steht. Die vorliegende Studie beschränkt sich auf den Bewerbungsprozess von Schülerinnen und Schülern an Haupt- und Realschulzweigen im Schulentlassjahr, die realistische Aspirationen herausgebildet haben. Für diese Gruppe ist es möglich, erstmals die Berufsziele zu Beginn und zum Ende der Bewerbungsphase zu analysieren, sodass Prozesse der Kompromissbildung aufgedeckt werden konnten, die insbesondere bei jungen Männern relevant sind.

Die Aussagen sähen vermutlich anders aus, wenn man Jugendliche einbezieht, die keine klaren beruflichen Aspirationen haben, die zunächst weiter auf die Schule gehen und sich später bewerben, oder wenn man den Beobachtungszeitraum ausweitet. Jugendliche, die sich bereits früh mit den Ausbildungsmarktopportunitäten beschäftigt und ihre Aspirationen diesen angepasst haben, treffen vermutlich im weiteren Bewerbungsprozess kaum mehr abweichende Entscheidungen. Dem entspricht der Befund, dass die Bewerber und Bewerberinnen, die im Herbst nach Schulende in Ausbildung sind, schon von Beginn an mit höherer Wahrscheinlichkeit geschlechtstypische Berufe angestrebt und diese dann auch realisiert haben. Jugendliche mit geschlechtsuntypischeren Berufszielen weichen dagegen häufiger auf einen weiteren Schulbesuch aus. Unklar ist, ob für sie der Schulbesuch eine Notlösung ist (Birkelbach 2007), weil sie im Bewerbungsprozess nicht erfolgreich waren, oder ob sie ihre Marktchancen testen wollten, die Schule aber bevorzugen.

Insgesamt ist zu vermuten, dass die Muster der Kompromissbildung in der Geschlechtstypik im Verbund mit den komplexen Selektionsprozessen im Berufsfindungs- und Bildungsentscheidungsprozess dazu beitragen, den Status quo der Geschlechtersegregation im Segment beruflicher Ausbildung für niedrig und mittel qualifizierte Jugendliche zu zementieren. Eine Veränderung von Segregationsmustern im gesamten Arbeitsmarkt dürfte damit nur über die Gruppe Jugendlicher ermöglicht werden, die in mehr schulische Bildung investieren, um ihre Aspirationen zu verwirklichen. Den Jugendlichen, denen ein weiterer Schulbesuch nicht offensteht oder für die er nicht attraktiv ist, kann eine Umsetzung geschlechtsuntypischer Aspirationen dagegen nur durch eine größere Offenheit in der Rekrutierungspraxis von Betrieben und beruflichen Schulen sowie durch weniger geschlechtskonforme Erwartungshaltungen von Lehrenden, Berufsberatung und Eltern ermöglicht werden. Angesichts der ausgeprägten Persistenz beruflicher Geschlechterstereotype sind hier zeitnah allerdings keine großen Veränderungen zu erwarten, zumal diese Personengruppen nur zum Teil durch gezielte Fortbildungen oder Beratungsangebote erreicht werden können.