Der andere Blick

Deutschland vor dem dritten Corona-Herbst: Die illiberale Mehrheit sollte um Entschuldigung bitten

Wer im vergangenen Jahr in Deutschland Zweifel an einer Impfung hatte, durfte sich von Politikern und Medien anhören, dass er das Land terrorisiere und ausgegrenzt gehöre. Das darf sich nicht wiederholen.

Beatrice Achterberg, Berlin 487 Kommentare
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Ein Mann demonstriert in Berlin gegen Corona-Massnahmen.

Ein Mann demonstriert in Berlin gegen Corona-Massnahmen.

Filip Singer / EPA
Beatrice Achterberg, Redaktorin im Berliner Büro der NZZ

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Niels Starnick

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Die deutschen Regierungspläne für den dritten Corona-Herbst sollen in den nächsten Tagen vorliegen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD und Justizminister Marco Buschmann von der FDP feilen noch an der Vorlage zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Dem Vernehmen nach soll es Schulschliessungen, Lockdowns und Ausgangssperren nicht mehr geben. Immerhin.

Doch wie steht es um die Versammlungsfreiheit, die Pflicht, Masken zu tragen, sich testen zu lassen, 2-G- und 3-G-Regeln? In diesen Fragen schlummert noch gesellschaftliches Sprengmaterial.

Bundeskanzler Olaf Scholz lag nicht nur ein bisschen, sondern komplett daneben, als er im vergangenen Winter versuchte, eine Spaltung der Gesellschaft zu negieren. Wahr ist: Die deutsche Pandemiepolitik hat die Gesellschaft gespalten. Die Gräben, die sich durch die Corona-Massnahmen auftaten, ziehen sich bis heute durch das öffentliche Leben, durch Unternehmen, mitunter durch heimische Wohnzimmer. Und dafür sind auch Politiker verantwortlich, die den Ungeimpften und Impfskeptikern nicht einfach nur widersprachen, sondern diese als Sündenböcke und Schuldige brandmarkten.

«Raus aus dem gesellschaftlichen Leben»

Ein paar Beispiele aus dem vergangenen Herbst: Die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann warf der ungeimpften Minderheit vor, die Mehrheit zu «terrorisieren». Ungeimpfte sollten «raus aus dem gesellschaftlichen Leben», forderte der CDU-Politiker Tobias Hans (das war vor seiner Abwahl als Ministerpräsident des Saarlandes). Und Friedrich Merz, inzwischen Chef der Christlichdemokraten, dachte laut über 2 G am Arbeitsplatz nach – also einen Zugang nur für Geimpfte und Genesene. Damit wäre auch gesunden Menschen der Zutritt zur Arbeitsstelle verwehrt worden. Eine Grenzüberschreitung in einer freiheitlichen Gesellschaft.

Auch Medienvertreter machten munter mit. Man sollte «mit dem Finger auf sie zeigen», schrieb der RTL-Ressortleiter Nikolaus Blome. «Eine Diskriminierung von Ungeimpften ist ethisch gerechtfertigt», lautete der Titel eines Gastbeitrags bei «Zeit Online». In Kommentaren öffentlichrechtlicher Medien regnete es Anschuldigungen. Der Tenor: Deutschlands Ungeimpfte und Impfskeptiker sind schuld an den Lockdowns und der Verbreitung des Virus.

Wollte man für diesen Furor Verständnis zeigen, könnte man sagen: Die besorgten Bürger wussten es einfach nicht besser. Dass die sogenannte Zero-Covid-Strategie dystopischer Murks ist, hätten sie zwar mit gesundem Menschenverstand schon damals erkennen können, aber die Gewissheit gibt es angesichts der gescheiterten Grossversuche in Ländern wie China und Neuseeland erst heute.

Ein Tiefpunkt des deutschen Corona-Prangers war die mediale Hetzjagd auf Joshua Kimmich. Der Bayern-Fussballer hatte bei der Impfung gezögert, weil er Langzeitstudien über mögliche Nebenwirkungen vermisste. Unzählige Kommentatoren, unter ihnen viele Spitzenpolitiker, redeten ihm deshalb ins Gewissen. Mal wurde er an seine «Vorbildfunktion» erinnert, mal dafür gerügt, dass er die AfD mit seiner Haltung indirekt unterstütze. Karl Lauterbach, damals noch nicht Minister, wollte Kimmich sogar persönlich impfen. Die Freiheit, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen, schien gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein.

Verloren in den Untiefen des Internets

So erschreckend der Lärm der einen, so erschreckend war auch die Stille der anderen. Von den führenden Vertretern der christlichen Kirchen in Deutschland etwa kam niemand auf die Idee, die Angeprangerten in Schutz zu nehmen und Verhältnismässigkeit anzumahnen. Der Geist des gesundheitspolitischen Kollektivismus wehte durch die Republik, und er drückte den Zweiflern und Skeptikern die Luft ab. Dabei ist Zweifel der Sauerstoff der Demokratie.

In der Folge drängten viele, die sich nicht gehört oder ungerecht behandelt fühlten, auf die Strasse und in die Untiefen des Internets, wo demokratiefeindliche Tendenzen wachsen konnten. Parolen, in denen die Corona-Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wurden, fanden Anklang, «Lügenpresse»-Rufe wurden lauter, dazu kamen Anfeindungen gegen Virologen und Angriffe auf Büros von Politikern. All das war und ist völlig indiskutabel. Aber die Radikalisierung vieler selbsterklärter Querdenker ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist auch die Konsequenz der Ausgrenzungsbereitschaft und des Erziehungsfurors der illiberalen Mehrheit.

Diejenigen, die mitgemacht haben und es heute besser wissen, sollten es ruhig zugeben: Wir haben ausgegrenzt, und das war falsch. Der dritte Corona-Herbst ist eine Chance, die Spaltung der Gesellschaft zumindest nicht weiter zu vertiefen. Das gilt für beide Seiten. Es gilt aufgrund der Kräfteverhältnisse aber im Besonderen für die Mehrheit im Land und vor allem für diejenigen, die sich mit Regierungsämtern am öffentlichen Gespräch beteiligen.

487 Kommentare
Antje Warnaar-Weber

Für mich ist das schlimmste daran die Erkenntnis, wie schnell Bürger auch heute noch auf etwas eingeschworen werden können, wenn es nur von Politik und Medien nachdrücklich als einzige Wahrheit verkauft wird. Und jegliche andere Meinung mit grossem Eifer verteufelt wird. Ein Blick in die Vergangenheit sollte warnen.

Roland Dr. Mock

Danke an die Autorin für die erfrischend eindeutige Stellungnahme. Und insbesondere Dank, daß sie die verblendeten Menschen um mich herum (und sowieso diejenigen, welche sich in den Medien als Rambos gegen „Antivaxxer“, „Coronaleugner“ etc. etc. brüsteten) an ihre unsägliche Dummheit, ihre an finstere Zeiten gemahnende Lust auf Denunziation ihrer Nächsten, ihr Anschleimertum und vor allem ihre unsägliche Feigheit erinnert. Manche haben ja nach der vierten Spritze und der dritten nachfolgenden Ansteckung mit dem Virus etwas gemerkt und sich still und leise in irgendeinen Winkel verkrochen. Manche aber tönen auch nach der zigsten „Auffrischung“ und nachdem sie mühsam wieder aus dem Bett gekrochen sind - noch, wie toll ihr Impfabo gewirkt hat😅  Covid 19 ist eben nicht nur ein Charakter- sondern auch ein Intelligenztest. Ich - ungespritzt und nach einem Schnupfen, den mir eine Gruppe „Geimpfter“ im Frühjahr verpasst hatte, quicklebendig geblieben - bin an sich kein rachsüchtiger Mensch. Aber für diejenigen, die mich und meine Familie zwei Jahre lang beschimpft, bedroht und ausgegrenzt haben, habe ich ein Gedächtnis wie ein Elefant. Ich vergesse keinen: Weder den Nachbarn, der uns plötzlich aus dem Weg ging, noch den „Freund“, der uns von der Geburtstagsfete auslud. Und Politiker vom Schlage eines Söders, Lauterbach und Kretzschmann oder Medienlieblinge wie Udo Lindenberg oder Günther Jauch, die am liebsten einen Zaun um uns „Assoziale“ errichtet hätten, schon gar nicht.

Mehr von Beatrice Achterberg (bta)

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