1. Startseite
  2. Kultur

Suggestiv, bedrückend, intensiv: Arnulf Herrmanns Oper „Der Mieter“

KommentareDrucken

Im Auftrag der Oper Frankfurt schrieb Arnulf Herrmann seine Oper „Der Mieter“. Die Uraufführung geriet zu einem intensiven Erlebnis.

Der Mieter, Georg, mietet eine Wohnung. Die Wohnung ist frei, weil die Vormieterin, Johanna, sich aus dem Fenster gestürzt hat. Nicht wegen der Schäbigkeit des Zimmers, sondern weil die anderen Bewohner dieses ehrenwerten Hauses ihr das Leben zur Hölle gemacht haben. Es dauert nicht lange, und Georg folgt ihr in den Freitod. Zu laut sei er, keifen Frau Bach und Herr Zenk und Herr Kögel. Dabei gibt sich Georg größte Mühe, nicht aufzufallen. Selbst sein Atmen stellt er in Frage, nur, um das Zimmer nicht zu verlieren.

So einfach erzählt, ergäbe diese Geschichte keine knapp zweistündige Oper. Gerade die Einfachheit macht den Stoff jedoch interessant, öffnet Wege, ihn zu deuten, ihm Abgründe unterzuschieben. Keine Politik, nur eine Ahnung von Satire, keine Sozialkritik, sondern Psychologie. Der österreichische Dramatiker Händl Klaus, ein etablierter Librettist, nahm den Roman „Le Locataire chimérique“ (Der trügerische, besser: mehrgesichtige Mieter) des französischen Autors Roland Topor zur Vorlage.

Lecke Leitungen tropfen

Klaus schreibt stringente und realitätsnahe Dialoge für Hausbesitzer, Nachbarn, den Mieter und seine Freunde. Nur noch Wortfetzen dagegen stammelt Johanna, die für drei sogenannte „Gesänge“ erscheint. Georg fühlt sich magisch zu ihr hingezogen. Zunächst nach der Einweihungsparty. Es ist still, so still, dass man aus lecken Leitungen das Wasser tropfen hört. Dann, nachdem die Nachbarn den Mieter nötigen wollten, eine absurde Beschwerde über Frau Greiner (Claudia Mahnke) und ihre behinderte Tochter zu unterschreiben. Und zum Schluss, wo der Mieter sich gleichsam mystisch vereinigt mit seiner rätselhaften Vormieterin. Bis hierhin folgt die Musik dem Text, skandiert, unterstreicht, beleuchtet, dient ihm.

Arnulf Herrmann hat sie im Auftrag der Oper Frankfurt geschrieben, von Anfang an begleitet von Regisseur Johannes Erath. Sie beginnt mit einem dumpfen Akkord, Johannas Sprung aus dem Fenster. Herrn Zenks tiefes Drohen (Alfred Reiter) bekommt dunkle Posaunentöne, auch die resolute Frau Bach (Hanna Schwarz) und die anderen (Frau Dorn Judita Nagyová; Körner: Michael Porter u.a.) werden in charakteristische Instrumentalfarben eingebettet. Johannas Stimme (madonnenhaft rein: Anja Petersen) tritt geisterhaft und glasklar aus Flöten- und Trompetentönen hervor, um in ihnen wieder zu verschwinden. Immer bedrohlicher klopfen die Schlaginstrumente an Decke, Türen und Wände. Der von Walter Zeh und Karsten Januschke einstudierte Philharmonia Chor Wien exerziert diffizile Rhythmen, bisweilen an Oratorisches von Orff oder Artur Honegger erinnernd.

Alles klingt weitaus raffinierter als mit Worten zu beschreiben; Kazushi Ono, der Dirigent, legt im Programmheft geradezu mathematische Proportionen offen, nach denen Herrmann seine Musik ordnet. Immer wieder wölbt sie enorme Spannungsbögen auf, von Stille bis zu zusammengeballten Klangformationen (konzentriert: das Opern- und Museumsorchester), um wieder in sich zusammenzufallen oder, als Zäsuren zwischen einzelnen Episoden, plötzlich abzureißen.

Realität und Traum

Die stärkste Wirkung aber geht von den suggestiven Bildern aus, die Kaspar Glarner (Bühne), Katharina Tasch (Kostüme), Joachim Klein (Licht) und Bibi Abel (Video) finden. Durchsichtige Vorhänge und Projektionen verwischen die Grenzen zwischen Realität und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, Zustand und Bewegung. Am stärksten das Bild im „Nachbarn“ genannten Zentrum: Hunderte von bewegten Augen starren das Publikum an, während im Hintergrund Georg mit seinen Irritationen hantiert. Hier wandelt sich äußere Handlung in innere Befindlichkeit, die Seele liegt offen, Georg stülpt sich, nicht nur in Form des Kleides, sondern in Imaginationen die Figur Johannas über, oder verleibt sie sich ein. Ein magischer Moment!

Aber er vermeidet es, Mitleid zu erregen, weil psychologische Bedrückungen sich längst in surrealistische Bilder aufgelöst haben. So, wie man sie in Filmen und Bildern von Bunuel, Magritte und Dalí kennt. Bis hierhin ist es ein spannender, intensiver, ja: suggestiver Abend, es gelingt sogar, die Bühne – hier ein transparent-grell leuchtendes Podest – zu kippen, das Publikum sieht wie von oben, wie Georg (phänomenal in Ausdruck, Stimme und Intonationssicherheit: Björn Bürger) zu springen droht – aber er springt nicht.

Weitere Gesänge Johannas heben an, die Musik wallt auf in bedrohliche Lautstärken, schrillt über die Schmerzgrenze hinaus, die Spannung erzeugenden Crescendi werden kürzer, häufiger, heftiger, bis das Opernhaus über den Köpfen der Besucher zusammenzubrechen scheint. So zerreißt, noch vor dem Ende, der dramatische Bogen. Georgs Sprung, zu sehen als Projektion eines Schattenrisses, sekundiert ein finaler Akkord, ähnlich dem vom Anfang. Er interessiert eigentlich nicht mehr. Großer Beifall für eine enorme Ensembleleistung.

Auch interessant

Kommentare