The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20101002204137/http://www.tagesanzeiger.ch:80/ausland/asien-und-ozeanien/Mein-Freund-der-zukuenftige-Diktator-Nordkoreas-/story/20634972

Mein Freund, der zukünftige Diktator Nordkoreas

In Nordkorea ebnet Kim Jong-il seinem Sohn Kim Jong-un den Weg an die Macht. Ein ehemaliger Mitschüler erinnert sich an Uns Schulzeit in der Schweiz.

1/8 Kim Jong-un soll ein fleissiger Schüler gewesen sein. Das Schweizer Fernsehen zeigte dieses Klassenfoto und meint, der Diktator in spe voll von 1998 bis 2000 im Berner Liebefeld zur Schule gegangen sein.
10vor10/SF

Es war einer dieser trägen Nachmittage im Berner Vorort Liebefeld, an dem Joao Micaelo die Wahrheit über seinen mysteriösen Mitschüler erfuhr. Doch das wurde ihm erst viel später bewusst.

Damals, im Jahr 2000, glaubte Micaelo an einen Scherz. Er war zu Gast bei seinem nordkoreanischen Schulkameraden, den er unter dem Namen Un Pak kennen gelernt hatte. Wie so oft sassen sie in einem kahlen Aufenthaltsraum und hörten nordkoreanische Musik.

Unerfahrener Kronprinz

Da holte Un Pak ein Foto von sich und Staatspräsident Kim Jong-il hervor und gestand: «Ich bin in Wahrheit nicht der Sohn des Botschafters, ich bin der Sohn des Präsidenten.» Sein Mitschüler hielt das für Angeberei. Im Grunde sei es auch gleich gewesen, sagt Micaelo heute: «Politik interessierte uns nicht.»

Heute ist Micaelos ehemaliger Schulkamerad General der nordkoreanischen Armee und wird als neuer Führer in der kommunistischen Diktatur gehandelt. Auf dem ersten Parteikongress seit dreissig Jahren wurde er mit seinem richtigen Namen Kim Jong-un vorgestellt. Der 28-Jährige ist jetzt zwar Kronprinz, gilt aber als noch zu unerfahren, um Staat und Partei von seinem Vater zu übernehmen. Ihm wurden deshalb seine Tante und deren Mann zur Seite gestellt.

Vier Freunde in der Klasse

Vor einem Jahrzehnt hätte auch niemand in der Liebefelder Schule Steinhölzli dem stillen Nordkoreaner eine Führungsrolle zugetraut. Un sprach selten, weil er sich mit der deutschen Sprache schwertat. In der Klasse hatte er vier Freunde, zwei von ihnen Ausländer. Die anderen Mitschüler wollten mit dem seltsamen Aussenseiter, der immer nur Nike-Jogginganzüge trug, nicht viel zu tun haben. Auffallend waren Uns Begabung für Mathematik und sein zeichnerisches Talent: «Wenn ihm langweilig war, malte er oft Comics im Unterricht», erinnert sich Micaelo, «es ging immer um Basketball.»

Micaelos Eltern kamen Mitte der Siebzigerjahre aus Portugal in die Schweiz. Nach dem Schulabschluss im Liebefeld zog der heute 26-Jährige nach Wien, wo er als Koch arbeitet. Mit den meisten Mitschülern steht er noch in Kontakt, an die Schule hat er nur beste Erinnerungen, er spricht vom «guten Klima und super Lehrern».

Verschlossener Junge

Zu Beginn der 6. Klasse, im August 1997, stellt der Klassenlehrer einen neuen Kameraden als «Sohn des nordkoreanischen Botschafters» vor. Un Pak wird auf den freien Platz neben Micaelo gesetzt. Sie freunden sich an, auch wenn die Kommunikation nicht einfach ist: Un spricht schlecht Englisch und wenig Deutsch, obwohl er schon zuvor auf einer Berner Schule war. «Hi, my name is Un», sagt er, und: «Nice to meet you.»

Un lebt in einem dreistöckigen Haus in der Kirchstrasse. In allen sechs Wohnungen wohnt dort Personal der nordkoreanischen Botschaft, es gibt eine Köchin und einen Privatlehrer für Un. Ein paarmal sieht Micaelo auch Uns Schwester und seinen älteren Bruder. Doch sie bleiben ebenso verschlossen wie die angeblichen Eltern. Herzlichkeit strahlt nur der Chauffeur aus, ein älterer, sehr kleiner Mann, der stets lacht, wenn er Un mit seinen vier Freunden zum Schwimmbad fährt.

Geschichten und Fotos aus Nordkorea

Uns Zimmer bekommt Micaelo nie zu sehen, sie sitzen stets im kahlen Aufenthaltsraum im Erdgeschoss, mit Couch, TV- und Videogerät und den neuesten Spielkonsolen, «die wir in der Schweiz noch gar nicht kaufen konnten». Un hat alle Filme des Actionstars Jackie Chan, und er besitzt einen Minidisc-Player, auf dem er am liebsten die nordkoreanische Hymne hört – und sie seinen Freunden vorspielt, «mindestens tausendmal».

In den Ferien flog Un stets nach Hause und brachte interessante Geschichten und bunte Fotos zurück in die Schweiz: von Abenden am Strand, von tollkühnen Manövern mit dem Jetski, von rauschenden Bällen mit seinen Freunden. Diese Fotos hätten damals sein Bild von Nordkorea geprägt, sagt Micaelo: «Ich wusste von der Diktatur, aber ich dachte trotzdem, dass das Leben dort so ähnlich wie in Portugal sei.» In der Schweiz hingegen ging Un abends nie aus und trank keinen Alkohol. «Seine ganze Leidenschaft war Basketball, wir spielten fast jeden Nachmittag.»

Sport und Frauen

Irgendwann rund um Ostern 2001 teilte Un seinem Schulfreund mit, dass er mit seinen Eltern zurück nach Nordkorea gehe. Micaelo tat das nicht nur sehr leid, er fand es irgendwie seltsam. Schliesslich hätte Un in diesem Jahr die neunte Klasse und damit die Schulpflicht in der Schweiz absolviert.

Sie trafen einander noch einmal, im Herbst 2001. Un rief Micaelo an, sie spazierten durch das Liebefeld und auf den Basketballplatz, sprachen über Sport und Frauen. Über sein Leben erzählte Un nichts. Aber er wollte mit seinem Freund in Kontakt bleiben und gab ihm seine E-Mail-Adresse, bevor er verschwand. Joao Micaelo verlor die Adresse auf einem defekten Computer.

Würde er heute dem zukünftigen Diktator Nordkoreas gerne schreiben? Micaelo weiss es nicht: Wahrscheinlich habe sich Un sehr verändert. Hält er seinen ehemaligen Freund für eine Führerfigur? Damals wirkte er sicher nicht so, sagt Micaelo, «aber das ist zehn Jahre her. Vielleicht ist er seither nur darauf gedrillt worden». (Tages-Anzeiger)

Erstellt: 29.09.2010, 08:45 Uhr

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