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Pierre-Laurent Aimard im Dialog mit dem Komponisten. Harrison Birtwistle will, dass das Klavier stets zu hören ist, auch in den wuchtigen, kompakten Klangblöcken, die vor Kraft fast zu bersten scheinen. Foto: Astrid Ackermann
Pierre-Laurent Aimard im Dialog mit dem Komponisten. Harrison Birtwistle will, dass das Klavier stets zu hören ist, auch in den wuchtigen, kompakten Klangblöcken, die vor Kraft fast zu bersten scheinen. Foto: Astrid Ackermann
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Großer Klavierklang, fließende Streichquartette

Untertitel
Neue Werke von Birtwistle, Hosokawa und Staud bei Münchens musica viva und Kölns „Musik der Zeit“
Publikationsdatum
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Wer diese Ausgabe der neuen musikzeitung durchblättert, wird kaum den Eindruck gewinnen, dass die „sogenannte“ Neue Musik ein Schattendasein fristet, nur in Nischen für ein spezielles Insiderpublikum erklingt. Die Donaueschinger Musiktage (siehe Seite 1) waren spannend wie immer, darüber hinaus wie immer stark besucht und für das von Auflösung bedrohte SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg einmal mehr Gelegenheit, seine unersetzbare Kompetenz in Sachen Neue Musik zu demonstrieren.

Wie wichtig die Existenz unserer Rundfunksinfonieorchester für das Musikleben, die Fortschreibung der Musik und ihrer Geschichte insgesamt ist, das konnte man bei zwei weiteren Konzertereignissen erleben: in der musica-viva-Reihe des Bayerischen Rundfunks erfuhr Harrison Birtwistles neues Klavierkonzert seine Uraufführung, zur gleichen Zeit gab es beim WDR in Köln zwei ungewöhnliche Premieren: Konzerte für Streichquartett und Orchester von Toshio Hosokawa und Johannes Maria Staud (siehe die folgenden Berichte). Über die Münchner Begegnung mit dem amerikanischen Komponisten Christian Wolff aus Anlass seines achtzigsten Geburtstages wird in der nächsten Ausgabe der nmz berichtet. Die Birtwistle-Huldigungen von Musik 21 Niedersachsen und NDR in Hannover, die Klang-spuren in Schwaz, die Ruhrtriennale, das Hörfest Neue Musik in Detmold sind weitere Ereignisse, die den schöpferischen Anspruch der Neuen Musik nachdrücklich dokumentieren.Im Mittelpunkt des musica-viva-Konzerts im Herkulessaal der Residenz stand „Responses“, das neue Klavierkonzert von Harrison Birtwistle. Es trägt einen speziellen Untertitel: „Sweet disorder and the carefully careless“ – das sorgfältig Sorglose und die süße Unordnung. Man darf also einen charakteristischen Birtwistle erwarten, und wird nicht enttäuscht. Es gibt keine längere Einleitung, in der sich die Protagonisten – Klavier und Orchester – erst einmal vorstellen, um sich dann in klassischer Manier allmählich aufeinander zuzubewegen. Birtwistle sieht in dem Mit- und Gegeneinander von Klavier und Orchester einen Dialog: Das Klavier stellt äußerst vernehmlich die „Fragen“, das Orchester gibt darauf die „Antworten“, deshalb, so Birtwistle, der Stücktitel „Responses“.

Birtwistle will, dass das Klavier stets zu hören ist, nicht nur in den zum Teil wunderbar fein ausgehörten und transparenten kammermusikalischen Partien, sondern auch in den wuchtigen, kompakten Klangblöcken, die vor Kraft fast zu bersten scheinen. Birtwistle kann zwar den Komponistenkollegen Rachmaninoff, wie er in einem launigen, im Programmheft abgedruckten Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Jonathan Cross mitteilt, nicht so recht leiden (Zitat: „Seine Musik hat nichts mit mir zu tun.“), aber irgendwie wirkt Birtwistles Klavierwerk in seinem ausgreifenden Gestus auch wie ein „Elefantenkonzert“ des gescholtenen Kollegen, nur dass in der Totale doch ein höherer intellektueller Anspruch durchbricht.

Für einen Pianisten wie Pierre-Laurent Aimard gleichsam ein gefundenes Fressen: Aimard überglänzt Birtwistles Imaginationen noch mit einem Schuss Spiritualität, hält die Klangblöcke in festen Formen, spielt mit einer eindrucksvollen gestischen Lebendigkeit, perfekt dialogisch accompagniert vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Stefan Asburys souverän alles überschauender Direktion.

Solo für die „Blechbratschen“

Vor der Birtwistle-Uraufführung durften die Hornisten des Orchesters sich mit Brett Deans „Three pieces for eight horns“ präsentieren, die der Komponist 1998 für die Berliner-Philharmoniker-Kollegen komponiert hatte. Hier in München fehlte ein kleiner Rest an ausgewogener klanglicher Vollkommenheit. Eine zweite Uraufführung gab es mit Arnulf Herrmanns „Drei Gesänge am offenen Fenster“, eine sensible Raumklangwechselkomposition, die zugleich optische Assoziationen wecken kann: Eine Frau schaut, mit dem Rücken zum Betrachter, aus einem Fenster hinaus und sieht – ja was? Wir werden es nie erfahren. Aber hier hören wir es wenigstens: Texte von Händl Klaus und vom Komponisten, die von Stille, zarter Körperlichkeit, Berührung und der Flüchtigkeit der Luft sprechen. (Irgendwie fallen einem von fern Rilkes „Sonette an Orpheus“ ein: der „steigende Baum, der „hohe Baum im Ohr“, der „singende Orpheus“, die „Verschweigung“). Von Herrmann wird alles in eine ebenso sensible, differenzierte, Klang- und Gesang-Musik gefasst. Anja Petersen realisierte die „Gesänge“ stilsicher, mit von Innen leuchtenden Soprantönen. Schöne Musik, große Musik.

Große Musik auch in Köln

Die traditionsreiche Reihe „Musik der Zeit“, früher meist ein ganzes Wochenende umfassend, jetzt in Einzelkonzerten über die Saison verteilt (immerhin hat der WDR-Intendant ein Bekenntnis zu den Klangkörpern des Senders abgegeben, im Gegensatz zu den leidigen Vorgängen beim Südwestrundfunk), bringt dank der Phantasie und des substanziellen Wissens des leitenden Redakteurs Harry Vogt immer wieder spannende, intelligente Programme. Diesmal hieß das Thema: „Orchesterquartette“. Das WDR-Sinfonieorchester und das Arditti Quartett fanden sich zusammen, um zwei neue Werke von Toshio Hosokawa und Johannes Maria Staud erstmals aufzuführen.

Ich der Fluss und Du das Meer

Hosokawa nennt sein Stück einfach nur „Fluss“ (es entstand 2014). Erst im Untertitel wird es deutlicher: „Ich wollt’, ich wäre ein Fluss und Du das Meer“. Hosokawa greift in seiner Komposition taoistische Vorstellungen von der Entstehung des Universums auf: Qi ist die Energie, die das Universum hervorbringt, sie fließt auf dem Grund der Erde, mäandert sozusagen, wodurch die unterschiedlichsten Formen entstehen. Die Flüsse überlagern sich, sie formen Yin und Yang, aus allem entsteht das, was wir Leben nennen. Hosokawa überträgt all diese Vorstellungen auf das Prinzip „Musik“. Sie ist der Fluss „Qi“, dem der Komponist nachhörend nachspürt, aus dem er den Strom der Klänge, ihre Tiefen und Bedeutungen ableitet. Nicht im Sinne abendländisch-westlicher Materialverarbeitung, vielmehr im intuitiven Erfassen des Geheimnisvollen, wobei beiden Instrumentalkörpern eine quasi dramaturgische Funktion zufällt: Das Streichquartett steht für den Menschen , das Orchester für das Universum, die Natur, für alles, was den Menschen umgibt. Zwischen allem fließen Flüsse, verbinden alles, jedes mit jedem, trennen es auch wieder, grenzen es ab. Es ist eine ständige fließende Bewegung in der Musik – das Abbild von Welt, Leben, Menschen.

Hosokawas Musik erreicht hier eine unerhörte Dichte, einen fast magischen Sog des Klangstroms, was einem manchmal fast den Atem nimmt vor Spannung. Und sie erstrahlt auch in einer normalerweise heute schon verdächtigen Schönheit, die hier jedoch durch die existenzielle Dimension des Werkes als etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches erscheint. Das WDR-Sinfonieorchester unter Peter Rundel realisierte das mit einer bewundernswerten Hingabe und erkennbaren Begeisterung, und die Ardittis: wie immer souverän, klangfarbig, alles geistig durchdringend.

Nachtmusik

Das gilt auch für das zweite Orches­terQuartett von Johannes Maria Staud. Ein eigenwilliger Titel: „Über trügerische Stadtpläne und die Versuchungen der Winternächte“, entstanden 2008 bis 2009. Nachts sind alle Katzen grau, sagt das Sprichwort. Nachts verändert sich auch unsere Wahrnehmung der Welt, unserer Umgebung, der Straßen und Gassen in unserer Stadt. Etwas Unwirkliches dringt in Auge und Bewusstsein ein. Wir drohen zu verirren, uns zu verlieren. Staud dringt mit seiner Musik in diese strukturellen Verwirrungen ein. Sie erscheint wie ein kartographiertes klingendes Psychogramm. Wie immer dicht komponiert, klanglich gespannt, unwirklich-unwirtlich in der emotionalen Wirkung. Ein anderes, aber ebenso spannendes Stück wie Hosokawas „Fluss“. Mit dem Streichmusikanten irren wir durch das Gassengewirr der Orchesterklänge. Hans Abrahamsens „Ten Sinfonias“ für Orchester (2010) als deutsche Erstaufführung sowie Strawinskys Musik zum Ballett „Agon“ komplettierten das anspruchsvolle Programm.
 

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