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Berliner Nachtleben: "Jetzt haben wir prima Perversitäten!"

Foto: General Photographic Agency/ Getty Images

Berlin in den Goldenen Zwanzigern "Ich bin Babel, die Sünderin"

Gigantische Amüsiertempel, die Tanzsensation Josephine Baker, Koks und Prostitution - ab 1918 tobte in Berlin das verruchteste Nachtleben der Welt. Und es war die Hauptstadt des Verbrechens.
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Foto: Thomas Müller

Nathalie Boegel, Journalistin bei SPIEGEL TV, arbeitete schon in ihrem Volontariat als Polizeireporterin, war dann 15 Jahre lang Moderatorin und Filmautorin. "Berlin. Hauptstadt des Verbrechens" ist ihr erstes Buch.

Berlin ist in den Zwanzigerjahren die Stadt, die niemals schläft. Nach dem Krieg haben Hunderte Lokale ihre Türen geöffnet und locken die Stadtbewohner und immer mehr Besucher aus aller Welt an. In all den Bars, Spelunken, Theatern, Varietés, Kneipen, Cafés und Restaurants schwingt fast immer eine ganz spezielle Note mit: Erotik liegt in der Luft. Nackte Haut, tiefer Ausschnitt, Kajal und Lippenstift für Männer wie Frauen und eine lange Zigarettenspitze.

Sex wird enttabuisiert. Plakate an Litfaßsäulen werben für Varieté-Vorstellungen mit Schönheiten in verführerischen Kostümen. An jedem Kiosk kann man einen Blick auf Titelseiten mit verheißungsvollen Körpern von Frauen und auch Männern werfen, die Zensur ist gefallen, es gibt Bücher zur sexuellen Aufklärung.

Versteckt in einer Seitengasse am Alexanderplatz liegt zum Beispiel das Café Braun. Hier kann man - na klar - Essen und Trinken bestellen, dazu gibt es noch eine Tanzfläche, eine Bühne, eine Bar. Ein ganz normales Lokal also? Nicht ganz. Denn im hinteren Teil befinden sich kleine Separees, Liebeslauben, in die sich Paare für intime Momente zu zweit zurückziehen können. Kostet dann zwei Mark extra.

Der Autor Mel Gordon hat für seinen prächtigen Bildband "Sündiges Berlin - Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang" 200 zeitgenössische Quellen untersucht und ein Verzeichnis des erotischen Nachtlebens erstellt. Mehr als 500 solcher Lokale gab es demnach in der Hauptstadt. 50 davon - für Reiche, Arme, Schwule, Lesben, Nudisten oder Unterweltler - beschreibt Gordon detailliert. Für jeden Geschmack ist etwas dabei.

"Haus Vaterland", Mutter der Erlebnisgastronomie

Den Potsdamer Platz beherrscht das "Haus Vaterland", hell erstrahlt die mehrstöckige Fassade im Lichterglanz. In diesem gigantischen Amüsierpalast, der vom Hotel Kempinski betrieben wird, können 6000 Gäste gleichzeitig in einem Dutzend Themenrestaurants - Löwenbräu, Wildwest-Bar, spanische Bodega - speisen. Die Architektur ist bombastisch, es gibt Marmortreppen, Brunnen mit farbigen Lichtern, künstliche Seen und riesige Panoramabilder an den Wänden.

Zwölf Kapellen spielen im Haus, 24 kostümierte Tänzerinnen zeigen ihre schönen Körper und 50 Kabarettkünstler ihre Nummern, halbseidene Damen hoffen auf zahlende Kundschaft. Wer als Tourist nach Berlin kommt, aus dem Inland oder aus dem Ausland - das "Haus Vaterland" muss man gesehen haben.

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Berliner Nachtleben: "Jetzt haben wir prima Perversitäten!"

Foto: General Photographic Agency/ Getty Images

Wer selbst kein Geld hat, um es nachts für den Amüsierbetrieb auszugeben, der findet - bei entsprechender Gegenleistung - vielleicht einen spendablen Kavalier. Attraktive, aber leider nicht zahlungskräftige junge Männer und Frauen können sich trotzdem mitvergnügen, wenn sie bereit sind, sich dafür zu verkaufen: Insbesondere exquisite Lokale haben Hinterzimmer eingerichtet, für die verdeckte Prostitution mit den hübschen jungen Stammgästen.

Garniert vielleicht noch mit einer Prise Koks, kann von hier die gemeinsame Reise durch das wilde Nachtleben der Hauptstadt beginnen. Und wenn es gut läuft, bringt der oder die Gelegenheitsprostituierte morgens auch noch für die Lieben daheim Geld mit nach Hause.

Einige Dutzend gut aussehende ehemalige Offiziere, jetzt allerdings arbeitslos, nehmen eine Sonderstellung im städtischen Amüsierbetrieb ein. Sie verdienen sich ihr Geld in den vornehmsten Etablissements als sogenannte Eintänzer. Ihre schneidigen Uniformen weisen sie als "Männer von Stand und Rang" aus, auch wenn sie alle militärischen Abzeichen von ihnen entfernen mussten. Dank ihrer geschliffenen Umgangsformen wirken die Offiziere a. D. auf die Damenwelt immer noch so anziehend, dass zahlreiche wohlhabende Frauen bereit sind, für ein paar Tänze im Arm des Galans bares Geld zu zahlen. Selbst im piekfeinen Hotel Adlon gehören Eintänzer zum guten Ton.

Nacktrevue im "Himmel und Hölle"

Am Kurfürstendamm, gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, liegt das glamouröse "Himmel und Hölle". Hier verkehrt die Elite des Berliner Nachtlebens: aufstrebende Politiker, reiche Erben, Playboys, langbeinige Diven. Das Essen in den beiden Themen-Restaurants, in dem in hellblaues Licht getauchten "Himmel " und in der rot beschienenen "Hölle", ist nur das Vorspiel. Jeden Abend um Mitternacht gibt es hier erotisch-knisterndes Cabaret vom Feinsten zu sehen: Bis zu 50 junge Schönheiten treten in einer raffinierten Nacktrevue auf.

Die Choreografin namens Madeleine Nervi setzt dabei auf Abgründiges - etwa auf "25 Aktbilder aus dem Leben des Marquis de Sade", wie Plakate damals anpreisen. In den Genuss solch einer Vorstellung kommen nur ausgewählte Besucher: Das "Himmel und Hölle" ist allein für Besitzer prallgefüllter Portemonnaies erschwinglich.

Wenn's deutlich günstiger sein soll, geht's zum Beispiel "Zum Hundejustav" an den Stettiner Bahnhof im Berliner Norden. Ab drei Uhr morgens wird es hier erst richtig voll. Viele der Gäste üben nicht ganz so ehrbare Berufe aus. Die Kneipe ist ein Treffpunkt der Berliner Unterwelt, von Gangstern aller Couleur, Taschendieben zum Beispiel, und Zuhältern, registrierten Prostituierten und einigen Obdachlosen. Auch deutschsprachige Afrikaner aus Kamerun zählen zu den Gästen.

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Boegel, Nathalie

Berlin - Hauptstadt des Verbrechens: Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger - Ein SPIEGEL-Buch

Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
Seitenzahl: 288
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Preisabfragezeitpunkt

25.04.2024 19.05 Uhr

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Ebenso schauen Polizeibeamte und Strafverteidiger hier nach Feierabend vorbei und sitzen an ihren Stammtischen. Musik gibt's beim "Hundejustav " natürlich auch: Gitarre, Banjo, der Piano- beziehungsweise Akkordeonspieler kann auch noch singen. Noch besser ist, wenn alle mitsingen und mit ihren Fingern auf die Holztische trommeln. Kneipenwirt Gustav soll früher Hundefänger gewesen sein und das Fleisch der Tiere gern essen, daher der Name seiner Kneipe.

Noch eine Etage tiefer ist offenbar das Publikum im "Kabarett Rote Mühle" neben dem Schlesischen Bahnhof angesiedelt. Hier verkehren stumpfe Unterweltgestalten, besonders Zuhälter, Prostituierte, Kokaindealer in ihrer "Freizeit" und den Angaben zufolge Heiratsschwindler. Jede Nacht soll es in dem alten, brechend vollen Kellerrestaurant zu Tumulten kommen.

Das im Namen des Lokals verkündete "Kabarett"-Programm scheint künstlerisch nicht besonders anspruchsvoll zu sein: Autor Gordon schreibt von einer benebelten, abgehalfterten Chanteuse, einem Stegreifdichter, einem Tanzpaar, das miteinander verheiratet ist, und einem Bauchredner aus der Nachbarschaft. Wegen des in Unmengen getrunkenen Alkohols sollen die "Künstler" vom Publikum derbe beschimpft worden sein, was wohl mit zum besonderen Charme dieses Etablissements gehörte.

Triumphzug für Tänzerin Josephine Baker

Das "Kabarett Rote Mühle" sollte übrigens nicht verwechselt werden mit der Bar "Rote Mühle" in Friedrichshain, die ein sehr schickes Etablissement zu sein scheint und mit einem künstlerisch gestalteten Plakat für sich wirbt.

Wenn es dunkel wird, gehen überall in in den Restaurants, Cafés, Bars, Cabarets, Revuen, Tanzlokalen und Lasterhöhlen der Hauptstadt die bunten Lichter an, und die Musik spielt auf. Im Krieg galt noch ein totales Tanzverbot, das erst Silvester 1918 aufgehoben wird. Tags drauf meldet das "Berliner Tageblatt": "Wie ein Rudel hungriger Wölfe stürzt sich das Volk auf die lang entbehrte Lust. Noch nie ist in Berlin so viel, so rasend getanzt worden." Und seitdem tanzt Berlin jede Nacht auf dem Vulkan.

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Tanzwunder in Berlin: Josephine Baker - gefeiert wie eine Göttin, begafft wie ein Tier

Foto: Hulton Archive/ Getty Images

Das Nelson-Theater am Kurfürstendamm präsentiert am Silvesterabend 1925 eine Varieté-Sensation: Dort tritt ein aufstrebender Star aus der Pariser "Revue Nègre" auf, ein 19-jähriges, bisexuelles Tanzwunder aus Übersee - Josephine Baker. Die Berliner Zeitungen kriegen sich vor Begeisterung kaum noch ein. Baker wirbelt über die Bühne mit nackten Brüsten, lässt ihre mit roten und blauen Federn geschmückten Hüften kreisen, schneidet Grimassen, läuft auf allen vieren, trillert mit den Füßen und tanzt einen rasend schnellen Charleston. Die Zuschauer geraten in Ekstase.

"Ihr Popo, mit Respekt zu vermelden, ist ein schokoladener Grieß-Flammerie an Beweglichkeit", schreibt die Kulturzeitschrift "Der Querschnitt". Atemberaubend ist Bakers erotischer Pas de deux mit ihrem Bühnenpartner, dem Senegalesen Joe Alex, genannt "Danse sauvage" - wilder Tanz.

Als sich die Tänzerin ab April 1926 den berühmten Gürtel aus Plüschbananen um die Hüften bindet, avanciert sie über Nacht zum ersten schwarzen Superstar. Die schlanke junge Frau mit den sinnlich-akrobatischen Bewegungen ist ein Sexsymbol und passt perfekt zum vergnügungssüchtigen Berlin der Zwanzigerjahre.

"Laster noch und noch! Kolossale Auswahl!"

In ihren Memoiren schreibt Josephine Baker später, dass sie in keiner anderen Stadt so viele Blumen und Geschenke bekommen habe: "Berlin, das ist schon toll! Ein Triumphzug. Man trägt mich auf Händen." Sie feiert die Nächte durch und entdeckt in Berlin das beste Bier der Welt. Die gefeierte Künstlerin löst eine wahre Tanz-Manie aus.

Charleston, Shimmy und Foxtrott heißen die neuen Tänze aus Amerika. Lernste schnell! Hoch die Schampus-Gläser und hoch die Mollen!

Die Stadt kann den Hals nicht voll genug kriegen. Berlinerinnen kappen die alten Zöpfe, tragen jetzt Bubikopf und dazu Seidenstrümpfe. Gemeinsam haut man sich die Nächte um die Ohren. Berlin flirtet, knutscht und hat Sex, auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen oder alle miteinander. Zugucken oder mitmachen - alles ist möglich. Berlin raucht Kette und zieht von einem Nachtlokal zum nächsten. Zig Millionenstädter leben mit ihrer Lebenslust, ihrem Lebenshunger und ihrer Lebensgier in "Sünde".

Weg mit den alten wilhelminischen Moralvorstellungen! Und weg mit der Angst, Angst vor Krieg, Armut und Ungewissheit, lasst uns lieber ins Vergnügen stürzen!

Schriftsteller Klaus Mann, Sohn des Nobelpreisträgers Thomas Mann, beschreibt in seiner Autobiografie "Der Wendepunkt" 1942, wie er die Hauptstadt in den Zwanzigerjahren wahrgenommen hat:

"Ich bin Babel, die Sünderin, das Ungeheuer unter den Städten. Sodom und Gomorra waren nicht halb so verderbt, nicht halb so elend wie ich! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften, bei mir geht es hoch her, oder vielmehr, es geht alles drunter und drüber. Das Berliner Nachtleben, Junge-Junge, so was hat die Welt noch nicht gesehen! Früher mal hatten wir eine Armee, jetzt haben wir prima Perversitäten! Laster noch und noch! Kolossale Auswahl! Es tut sich was! Das muß man gesehen haben!"

Mehr dazu in SPIEGEL GESCHICHTE 1/2020
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DER SPIEGEL

Die 20er Jahre: Zwischen Exzess und Krise – wie ähnlich sich damals und heute sind

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Der britische Schriftsteller Netley Lucas, eine schillernde Persönlichkeit und selbst mehrfach verurteilter Trickbetrüger, zeichnet das damalige Berlin sogar in noch drastischeren Worten:

"Und nun kommen wir zu der schäbigsten Unterwelt aller Städte - jener des Nachkriegs-Berlins. Seit der Friedenserklärung sucht Berlin sein Heil in den schlimmsten Ausschweifungen, die man sich nur vorzustellen vermag. Der Deutsche ist abstoßend in seiner Amoral, er wünscht seine Halbwelt und seine zwielichtigen Vergnügungen ohne jegliche Kultur oder Verfeinerung; er genießt das Obszöne in einer Form, die nicht einmal die Pariser dulden würden."

Mit dieser für Berlin wenig schmeichelhaften Meinung ist Lucas nicht allein. Auch Ben Hecht, damals Auslandskorrespondent der "Chicago Daily News", ist nicht angetan von den Ausschweifungen der Metropole. Er bezeichnet die Hauptstadt kurz und knapp als "erstklassige Brutstätte des Bösen".

Ist Berlin in den Zwanzigerjahren wirklich der tiefste Sündenpfuhl der Welt? Zeitzeuge Klaus Mann schreibt, dass "Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen" versuchen, sich durch ihre Exzesse in einer auf den Kopf gestellten Welt der Realität des Alltags zu entziehen.

Dafür bietet die Stadt eine Menge exzellente Möglichkeiten, von der einfachen Kaschemme bis zur kristalllüsternen Edelbar. Und überhaupt ist Berlin damals ja die Stadt der jungen, lebenshungrigen Menschen: Ein Drittel der Bevölkerung ist unter 18 Jahre alt.

Video: Berlin - Hauptstadt des Verbrechens

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