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Politik (Print DW)

"Warum sollte Serbien Mladic schützen?"

Senior Editor
Präsident Tadic über den Kriegsverbrecher, ambivalente Beziehungen zu Moskau und die serbische Täterrolle

Serbien klemmt politisch zwischen Europa und Russland. In der kommenden Woche ist erstmals offiziell Russlands Präsident Dmitri Medwedjew zu Besuch in Serbien, beim "kleinen Bruder". Kurz darauf sein türkischer Amtskollege Abdullah Gül. Damit wendet sich der Balkanstaat, der gern in die EU möchte, zwei europakritischen Partnern zu. Am 26. Oktober beginnt -14 Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton - der Kriegsverbrecherprozess gegen Radovan Karadzic in Den Haag. Mit Serbiens Präsident Boris Tadic sprach Daniel-Dylan Böhmer.

Die Welt: Wenn man Europa als Gemeinschaft friedliebender Demokratien betrachtet, muss sich Serbien dann nicht von seiner Schutzmacht Russland lösen, wenn es dazugehören will?

Boris Tadic: Serbien hat keinen Grund, größere Distanz zu Russland zu wahren als Deutschland. Ihr Land hat ebenso funktionale Verbindungen zu Russland wie wir, vielleicht sogar engere. Deutschland ist ein Vermittler zwischen Russland und Europa - Serbien kann eine ähnliche Rolle spielen. Was unser politisches System angeht, orientieren wir uns klar an der Europäischen Union, unser Verhältnis zu Brüssel hat die Schlüsselposition. Unser System ähnelt dem deutschen übrigens sehr.

Die Welt: Als Schützling von Moskau stecken Sie in unauflöslichen Widersprüchen. Wenn Sie sich Europa wirklich so nahe fühlen, dann hätten Sie doch - so wie Deutschland auch - Russlands Invasion in Georgien klar verurteilen müssen. Russland hat Teile Georgiens besetzt, um die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens zu ermöglichen. Wenn Sie das gutheißen, dann müssten Sie auch die Abspaltung des Kosovo akzeptieren. Aber Sie setzen gerade dabei auf Moskaus Unterstützung. Welchen Sinn ergibt das?

Tadic: Nun, wo wir unsere Verbundenheit mit den europäischen Institutionen abbilden können, tun wir das auch, etwa in Verfassungsfragen. An anderen Stellen haben die nationalen Interessen Serbiens Vorrang. Das Thema Georgien ist für uns sehr sensibel. Serbien kann weder implizit noch explizit Schritte unternehmen, die unsere legitimen Interessen in der Provinz Kosovo gefährden. Wir lehnen Gewalt zur Lösung politischer Probleme ab. Darum haben wir das Problem des Kosovo der politischen Sphäre entzogen und den Internationalen Gerichtshof angerufen. Er soll klären, ob die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo rechtens war.

Die Welt: Aus Ihrer Zwickmühle hilft Ihnen das aber nicht heraus. Sie haben verkündet, Serbien werde nur mit dem Kosovo als festem Bestandteil seines Territoriums der EU beitreten. Ist es nicht Zeit, diese Bedingung aufzugeben?

Tadic: Wir werden das Urteil des Internationalen Gerichtshofes in jedem Fall akzeptieren. Aber ich bin überzeugt, dass die Richter die Abspaltung eines Teils des Staatsterritoriums aus ethnischen Gründen nicht akzeptieren werden. Die EU hat ja auch keine einheitliche Meinung - Spanien wird das Kosovo nie als Staat anerkennen (weil das ein Argument für Basken oder Katalanen wäre, sich von Spanien zu lösen; d. Red.). Großbritannien gehörte hingegen zu den ersten Ländern, die das taten. Diese Positionen existieren nebeneinander in der Union. Also wäre es auch für uns kein Problem, unsere Position innerhalb der EU zu formulieren.

Die Welt: Eine Bedingung für einen Beitritt in die Europäische Union ist die Auslieferung aller mutmaßlichen Kriegsverbrecher an das Jugoslawien-Tribunal der UN. Angeblich kann sich Ratko Mladic, der für den Tod von etwa 8000 Zivilisten in Srebrenica verantwortlich ist, noch immer frei in Belgrad bewegen. Reicht Ihre Kontrolle weit genug, um auszuschließen, dass Mladic vom Sicherheitsapparat geschützt wird?

Tadic: Ich bin sehr unglücklich, wenn Europas Medien solche Gerüchte verbreiten. Unser Polizeiapparat ist von oben bis unten auf die Ergreifung Mladic' konzentriert. Das sagen auch internationale Sicherheitsexperten. Von 46 Angeklagten des Tribunals hat Serbien bis heute 44 ausgeliefert, einschließlich zweier ehemaliger Präsidenten unseres Staates. Als Slobodan Milosevic oder Karadzic ausgeliefert wurden, war das bei uns weitaus brisanter, als es eine Auslieferung Mladic' heute wäre. Wenn Sie all das in Betracht ziehen - warum sollte jemand ausgerechnet ihn schützen wollen? Wenn Mladic sich in Serbien in die Öffentlichkeit wagen würde, dann wäre er innerhalb von fünf Minuten verhaftet.

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Die Welt: Sie sind Psychologe. Muss Serbien seine Kriegsverbrechen nicht offener und öffentlicher aufarbeiten? Muss es sich und der Welt nicht eingestehen, in den Balkankriegen auch Täter und nicht nur Opfer gewesen zu sein?

Tadic: Das macht die Suche nach den Angeklagten so wichtig. Wir müssen unsere Vergangenheit aufarbeiten. Als Karadzic ergriffen wurde, hat Frau Merkel mich angerufen, um zu gratulieren, und sie hat mich gefragt, ob ich zufrieden sei. Ich sagte: "Nein. Ich werde erst zufrieden sein, wenn auch Mladic gefasst ist." Die Serben sind auf dem Balkan das Volk, das den größten Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung leistet. Leider bin ich der einzige Präsident, der sich für die Verbrechen seines Landes entschuldigt hat. Und ich finde es sehr bedauerlich, dass die anderen Präsidenten es versäumt haben, sich für die Gräuel zu entschuldigen, die an meinem Volk begangen wurden. Eine Täterrolle für Serbien muss ich ablehnen. Das war ein Bürgerkrieg, und daran war jeder beteiligt. Wir alle müssen uns unserer Verantwortung stellen.

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