fluter.de: Die Benachteiligung hässlicher Menschen, so Attraktivitätsforscher, ist möglicherweise die am häufigsten unterschätzte aller Diskriminierungen. Ist es echt so schlimm?

Ulrich Rosar: Nach Befunden der bisher durchgeführten Studien ist Attraktivität beziehungsweise ihre Abwesenheit einer der Hauptgründe für Diskriminierung. An der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gucken wir uns das zum Beispiel im Vergleich mit Diskriminierung aufgrund des Geschlechts an und stellen fest, dass der Effekt der Attraktivität nicht selten viel größer ist.

Wie zeigt sich diese Diskriminierung im Alltag?

Sie wirkt von der Wiege bis zur Bahre. So ist nachgewiesen, dass schon Kleinkinder von ihrer Umwelt in Abhängigkeit von ihrem Erscheinungsbild behandelt werden. Das zieht sich durch Kita und Schule: Die attraktiven Kinder werden von den Gleichaltrigen bevorzugt und sind oft die Anführer. Sie werden von Eltern und Erziehern mehr gefördert und in der Schule winken ihnen dann bessere Noten. 

Für die gleiche Leistung?

Ja. Wir haben an einem nordrheinwestfälischen Gymnasium mit einer fünften und zwei neunten Klassen eine Studie durchgeführt. Dabei haben wir Schüler und Klassenlehrer befragt, Klassenbücher ausgewertet, Intelligenztests durchgeführt und uns die Noten angeschaut. Am Ende zeigte sich insbesondere für die Jungs, dass es einen starken Attraktivitätseffekt gibt. Bei den Mädchen fiel der nicht ganz so stark aus, weil sie ohnehin einen relativ großen Geschlechtsbonus bekommen.

Wie sehr beeinflusst Attraktivität den Erfolg im Berufsleben?

Bewerbungen mit Foto werden in Abhängigkeit von der Attraktivität berücksichtigt. Bei Vorstellungsgesprächen sind Attraktive erfolgreicher, genauso bei Gehaltsverhandlungen. Die Leistungsbeurteilung fällt bei ihnen besser aus, sie werden eher befördert und seltener entlassen. Und attraktiven Führungspersonen folgen Mitarbeiter bereitwilliger als unattraktiven.

Daniel Hamermesh, ein Wirtschaftswissenschaftler aus Texas, kam auf durchschnittlich 300.000 Dollar, die einem wenig attraktiven Erwachsenen im Laufe des Berufslebens entgehen. Sind solche Zahlen plausibel?

Absolut, die Forschung von Hamermesh ist hoch seriös. In Deutschland haben wir leider noch keine verlässlichen Daten, die Attraktivitätsmessung und Einkommen zusammenbringen. Aber wir sehen auf jeden Fall die gleiche Tendenz.




„Je attraktiver eine Person ist, desto stärker werden ihr positive Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben“

Gutaussehende Frauen sind häufiger berufstätig als weniger gutaussehende. Bei Männern sind die Unterschiede geringer. Warum?

In westlich geprägten Gesellschaften ist es mit Blick auf die Teilnahme am Erwerbsleben wegen der traditionellen Rollenverteilung nicht von Bedeutung, wie die Männer aussehen, weil von ihnen erwartet wird, dass sie berufstätig sind. Frauen steigen hingegen auch heute noch grundsätzlich häufiger aus dem Beruf aus, Stichwort Kinder. Ihre Attraktivität beeinflusst, wie einfach sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren können. Es gibt davon losgelöst aber auch eine Wechselwirkung zwischen Berufsfeld, Geschlecht und Attraktivität, den sogenannten „Beauty is beastly“-Effekt.

Wie wirkt der?

Je attraktiver eine Person ist, desto stärker werden ihr positive Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben. Weil aber Attraktivität viel mit geschlechtsbezogener Attraktivität zu tun hat, werden ihnen auch geschlechtsbezogene Stereotype stärker zugeschrieben: Je attraktiver Frauen sind, als umso einfühlsamer, sozialverträglicher und rücksichtsvoller gelten sie. Männern wird dagegen stärker Aggressivität, Durchsetzungsvermögen und Willensstärke zugeschrieben. Wenn wir in einem Handlungsumfeld sind, wo gerade letztere Eigenschaften gefordert werden – zum Beispiel in Führungspositionen – haben attraktive Männer durch das Geschlechtsstereotyp einen Vorteil, attraktive Frauen einen systematischen Nachteil. 

Funktioniert das auch umgekehrt?

Ja. Bewerben sich in einem Kindergarten eine attraktive Frau und ein attraktiver Mann, hat höchstwahrscheinlich der Mann das Nachsehen. Allerdings sind die meisten Berufe männlich konnotiert. Deshalb schlägt der „Beauty is beastly“-Effekt vor allem für Frauen negativ zu Buche.

Süsser Hund - hässlicher Hund
 

Sind wir uns denn so einig darüber, wer oder was schön ist?

Definitiv. Der Ausspruch „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ ist weitgehend falsch. Wenn wir Versuchsteilnehmern Porträtfotos vorlegen, die sie spontan anhand einer Skala bewerten sollen, sind die Ergebnisse total stabil – es macht praktisch keinen Unterschied, ob man zwei Dutzend Versuchspersonen hat oder 10.000.  

Warum bevorteilen wir attraktive Menschen?

Die Psychologie spricht vom Heiligenschein-Effekt: Wenn wir an einem Objekt oder einer Person eine positive Eigenschaft wahrnehmen, dann gehen wir davon aus, dass auch in allen anderen Eigenschaften positive Ausprägungen vorherrschen. Ein grundsätzlicher Denkfehler, dem wir immer wieder aufsitzen und den wir auch noch sozialisieren. 

Wodurch?

Denken Sie z.B. an die Märchen Ihrer Kindheit: Die Prinzessin und der Prinz waren immer schön, die Hexe war immer hässlich. Wir sind quasi seit frühester Kindheit darauf getrimmt, Schönheit zu bevorzugen.

Ein Funken Lebenserfahrung reicht doch aber aus, um zu erkennen, dass die Rechnung „Schön ist gleich gut“ Quatsch ist.

Das Ganze funktioniert leider sehr unbewusst und automatisch. Bevor wir auch nur ein Wort mit einer Person gesprochen haben, bilden wir uns ein Attraktivitätsurteil. In Millisekunden werfen wir eine Vorurteilsmaschine an, die die Ausgangssituation definiert, von der aus jede potenzielle Interaktion mit dieser Person startet.

Was ist mit Urteilen, für die man sich mitunter bewusst mehr Zeit lässt, zum Beispiel einer Wahlentscheidung?

Gerade im Bereich der Politik haben wir nachgewiesen, dass die physische Attraktivität von Kandidaten einen nachhaltigen Einfluss auf den Wahlerfolg hat. Das gilt für Direktkandidaten in Wahlkreisen genauso wie für Spitzenkandidaten. Und wenn jetzt der Einwurf kommt „Die sehen ja alle nicht gut aus“, dann lässt sich entgegnen, dass es bereits ausreicht, wenn sie besser ausschauen als ihre Konkurrenz. 

Vielleicht trügt das Gefühl, aber mir kommt es so vor, als würde Attraktivität in der Politik eine wachsende Rolle spielen.

„Viele Wähler gucken heute weniger auf die Inhalte als auf die Personen. Da greift wieder die Vorurteilsfalle“

Sicher sogar. Früher haben viele Menschen nach Parteibindung gewählt. Die geht aber zurück. Gleichzeitig verlagert sich die mediale Vermittlung von Politik deutlich auf die audiovisuellen Medien, und die brauchen Gesichter. Viele Wähler gucken heute weniger auf die Inhalte als auf die Personen und versuchen nicht zuletzt anhand von Äußerlichkeiten abzuschätzen, ob diese eine Politik in ihrem Interesse verfolgen werden und auch durchsetzen können. Da greift wieder die Vorurteilsfalle: Sie kennen die Personen ja nicht und gucken nach Merkmalen, die ihnen zugänglich sind. Oft ist das die Attraktivität.

Also ist es nicht so weit hergeholt, dass Sebastian Kurz’ Jugendlichkeit seinen Wahlerfolg in Österreich mitverantwortet hat?

Richtig. Ein „Babykanzler“, der nach den Debakeln der Großen Koalitionen der letzten Jahre glaubwürdig frischen Wind verspricht, hatte automatisch große Aussicht auf Erfolg. 

Was kann man gegen die Diskriminierung weniger attraktiver Menschen tun?

Erstens: Aufklärung. Den allermeisten Menschen ist überhaupt nicht bewusst, dass sie hinsichtlich Attraktivität diskriminieren. Zweitens: Sicherungsmechanismen einbauen. Wenn man zum Beispiel in der Schule oder Uni Leistungen beurteilt, sollte man sich der Beurteilungskriterien bewusst sein. Aus meiner Sicht wäre es auch wichtig, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden und Klausuren in anonymisierter Form und am besten digital einer zweiten Person vorzulegen. Ich weiß, das ist ein riesiger Mehraufwand. Aber eine unabhängige Einschätzung wäre zumindest stichprobenartig hilfreich. 

Was kann man als Einzelner tun?

Mir hilft es zum Beispiel meine Eindrücke – etwa nach einem Seminar – sofort stichwortartig zu fixieren. Wir erinnern uns nämlich später besser und positiver an das, was attraktive Menschen getan oder gesagt haben. Verschriftlichung schützt uns zumindest ein Stück weit vor dieser Verzerrung, dem sogenannten Erinnerungsbias. 

Was könnte der Staat leisten? Würde es helfen – jetzt mal rein theoretisch –, im Grundgesetz zu ergänzen, dass niemand aufgrund seines Aussehens benachteiligt werden darf? 

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Ulrich Rosar (Foto: privat)

Ulrich Rosar lehrt und forscht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Als einer der ersten deutschen Wissenschaftler untersucht er, welche Rolle Attraktivität für soziale Ungleichheit spielt.

(Foto: privat)

Ich bin unentschlossen. Anders als bei Merkmalen wie zum Beispiel religiöser Anschauung gibt es bestimmte Situationen, wo Attraktivität ein legitimer Wettbewerbsvorteil sein kann. So ist zum Beispiel nachgewiesen, dass attraktive Menschen bessere Verkäufer sind. Würde man ins Grundgesetz schreiben, dass niemand aufgrund seiner äußeren Anmutung diskriminiert werden darf, würde das in einen Leistungswettbewerb eingreifen. Man würde ja auch nicht ins Grundgesetz schreiben: Niemand darf aufgrund seiner Intelligenz diskriminiert werden – die wird ja auch zu großen Teilen von Mutter Natur mitgegeben. Es gibt aber eine Menge Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber sehr wohl aktiv werden könnte. Ich bin überzeugt, dass man verpflichtend anonymisierte Bewerbungen einführen sollte.

Je detaillierter die Diskriminierung weniger attraktiver Menschen nachgewiesen wird, desto mehr wundert es, dass es kaum Verbände gibt, die sich gegen diese Form der Benachteiligung einsetzen.

Die Idee kann aus zweierlei Gründen nicht wirklich Fuß fassen. Erstens gibt von sich aus keiner gerne zu, dass er zu den Unattraktiven gehört. Und zweitens handelt es sich oft um einen relativen Wettbewerb. Es geht nicht darum, wie Heidi Klum oder George Clooney auszusehen, sondern einfach ein bisschen besser als die unmittelbare Konkurrenz. In diese glückliche Lage können wir ja alle mal kommen. 

Schlechter auszusehen als der Rest kann für die eigene, tatsächliche Leistung auch ein Vorteil sein: Sie haben in einer Studie gezeigt, dass weniger attraktive Fußballer besser kicken als attraktive. Lässt sich das auch auf andere Bereiche umlegen?

Ja, wir gehen davon aus, dass man das verallgemeinern kann. Weniger attraktive Menschen müssen sich wohl durch Mehranstrengung hervortun und bauen dadurch ihre Expertise aus.

Sollten sich Arbeitgeber bei der nächsten Personalentscheidung also besser für den hässlichsten Bewerber entscheiden?

Haha. Das könnte eine mögliche Konsequenz sein, ja. Allerdings wäre das dann eine negative Diskriminierung der Attraktiven. Im Ernst: Wichtig ist ganz einfach, auf die objektive Leistung zu gucken – egal welches Aussehen, welche Ethnie, welches Geschlecht oder welches Alter ein Mensch hat.

Fotos: Renke Brandt