Gastkommentar

Sympathisanten des Terrors

Wie stark ist der ideologische Rückhalt des islamischen Extremismus? Überlegungen, Zahlen und Studien zu einem wichtigen Phänomen.

Ruud Koopmans
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In Molenbeek war Salah Abdeslam (Zweiter von links) "einer von uns"; das Videostill aus dem Jahr 2014 zeigt ihn auf dem Markt des Quartiers. (Bild: Tvbrussels / AP)

In Molenbeek war Salah Abdeslam (Zweiter von links) "einer von uns"; das Videostill aus dem Jahr 2014 zeigt ihn auf dem Markt des Quartiers. (Bild: Tvbrussels / AP)

Mehr als vier Monate vermochte sich Europas zuletzt meistgesuchter Terrorist, Salah Abdeslam, vor der Polizei zu verstecken. Nach den Anschlägen in Paris am 13. November 2015 hatte er noch in derselben Nacht zwei Freunde angerufen, die in ihrem Auto nach Paris fuhren und ihn zurück über die Grenze nach Brüssel brachten, wo er zuletzt wohnhaft war. Nach der Ankunft kaufte er neue Kleidung und ging zum Coiffeur. Ein anderer Freund holte ihn daselbst ab, sie besuchten kurz ein Café, dann tauchte Abdeslam ab, zuerst im Brüsseler Stadtteil Schaarbeek und danach noch an einigen anderen Adressen.

Extremismus hat eine Basis

Am 18. März 2016 ist Abdeslam nach 126 Tagen Flucht endlich von der Polizei verhaftet worden. Sein letztes Versteck war im Stadtteil Molenbeek die Wohnung der Familie eines weiteren Freundes, wo sich ausser ihm noch drei Erwachsene sowie einige Kinder aufhielten. Während der Verhaftungsaktion wurde die Polizei von Jugendlichen aus der Nachbarschaft mit Steinen beworfen. Salah Abdeslams Flucht endete nur dreihundert Meter von seinem Elternhaus entfernt. Wenige Tage nach der Verhaftung, am 22. März 2016, sollten weitere Bekannte, bei denen Abdeslam während der Zeit seiner Flucht untergetaucht war, Anschläge auf den Brüsseler Flughafen und eine Metrostation verüben.

Wie konnte sich Abdeslam so lange in Brüssel verstecken, in jener Stadt, wo er geboren und aufgewachsen war, wo viele in der marokkanischstämmigen Gemeinschaft ihn, seine Familie und seine Freunde kannten? Warum klatschte die Nachbarschaft keinen Beifall, als die Polizei Abdeslam verhaftete? Wie konnten die Brüsseler Attentäter ungestört neue Anschläge vorbereiten, obwohl Brüssel nach den Pariser Anschlägen im Fokus der Sicherheitsdienste stand?

Die Antwort ist heute keine andere als damals in den 1970er Jahren, als sich die Frage stellte, warum es für die deutschen Sicherheitsbehörden so schwierig war, der Rote-Armee-Fraktion (RAF) habhaft zu werden. Die Antwort darauf ist dieselbe wie heute, wenn darüber gerätselt wird, warum in ostdeutschen Kleinstädten rechtsextreme Jugendliche ungestört Asylbewerberunterkünfte angreifen können und niemand im Nachhinein gewusst haben will, wer dahintersteckte. Die ausländerfeindlichen Gewalttäter wissen, dass viele ihr Ziel teilen, die Asylbewerber aus dem Ort zu schaffen – und dies, obwohl die meisten ihrer Nachbarn die Gewalt eigentlich ablehnen dürften. Sie wissen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, wenn sie sich in ihrem Freundeskreis oder am Stammtisch mit der Tat brüsten, weil viele so denken wie sie und die wenigsten sie an die Polizei verraten würden.

Genauso konnte sich die Rote-Armee-Fraktion wie ein Fisch im Wasser durch die linksextreme Szene bewegen, wo zwar viele die Gewalt im Prinzip zurückwiesen, aber andererseits auch viele die klammheimliche Freude darüber, dass wieder ein Kapitalistenschwein draufging, kaum verhehlen konnten. Kurzum, keine terroristische Bewegung in der Geschichte, ob nun linksgerichtet wie die RAF, rechtsgerichtet wie die deutschen Neonazis, nationalistisch wie die Irische Republikanische Armee, hat jemals erfolgreich operieren können ohne einen breiteren Kreis von Sympathisanten und Unterstützern.

Wenn wir aber der geläufigen Meinung folgen, soll das nicht für den islamischen Extremismus gelten, der angeblich in den muslimischen Gemeinschaften Europas ein isoliertes Phänomen darstelle. Diese Lesart steht tatsächlich in Widerspruch zu einer Menge an Forschungsbefunden, die zeigen, dass es für die Ziele der islamischen Extremisten mehr Unterstützung gibt als gemeinhin angenommen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen – und sich in extenso mit den Resultaten zu befassen.

Fakten zum Fundamentalismus

Fangen wir an mit der religiös-fundamentalistischen Ideologie, auf die sich die Extremisten berufen. Der Fundamentalismus ist eine rigide, intolerante Glaubensauffassung. Seine Anhänger zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Glauben zu seinen vermeintlichen historischen Wurzeln zurückführen wollen, nur eine für alle bindende Interpretation der heiligen Schriften zulassen und die Regeln dieser Schriften über die weltlichen Gesetze stellen.

Nach diesen Kriterien ist der islamische Fundamentalismus in Europa keineswegs ein Randphänomen, sondern reicht bis in die Mitte der islamischen Gemeinschaften in Europa. Der am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) durchgeführte Six Country Immigrant Integration Comparative Survey unter Muslimen in sechs europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien, Schweden und den Niederlanden – gibt einen Hinweis: 47 Prozent der befragten Muslime vertreten eine solche fundamentalistische Glaubensauffassung. Die Befragten, die religiöse über weltliche Gesetze setzen, denken dabei nicht an den hypothetischen Fall einer Diktatur, wie im Nachgang der Studie in Deutschland gemutmasst wurde: 45 Prozent halten die Regeln des Korans für wichtiger als die deutschen Gesetze. Zum selben Schluss gelangt die 2007 im Auftrag des deutschen Innenministeriums durchgeführte Studie «Muslime in Deutschland». 47 Prozent der befragten deutschen Muslime stimmen demnach der Aussage zu: «Das Befolgen der Vorschriften meiner Religion ist für mich wichtiger als Demokratie».

Das heisst natürlich nicht, dass all diese Muslime gleich die Scharia einführen wollen. Verschiedene Umfrageergebnisse belegen aber: Auch die Gruppe, die für die Anwendung der Scharia votiert, ist keinesfalls vernachlässigbar. Ich zitiere ausführlich, weil die Umfragedaten hier einer weitverbreiteten öffentlichen Meinung klar widersprechen. In der Studie «Salafisme in Nederland» behaupten 31 Prozent der Muslime, dass sie eine Bewegung, die in den Niederlanden die Scharia einführen will, sicher oder vielleicht unterstützen würden. In der Studie «Living apart together» erklären 28 Prozent, dass sie lieber unter der Scharia als unter den britischen Gesetzen leben möchten. Diese Untersuchung zeigt auch: 43 Prozent der britischen Muslime sind der Meinung, dass eine Muslimin nicht ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormundes heiraten dürfe; 46 Prozent befürworten die Polygamie; 61 Prozent finden, dass Homosexualität illegal sein sollte; und 31 Prozent unterstützen die Meinung, wonach jemand, der sich vom Islam abwendet, die Todesstrafe verdient.

Vorurteile und Feindbilder

Religiöser Fundamentalismus geht stets mit Vorurteilen und Feindbildern gegenüber anderen Gruppen einher. In der erwähnten WZB-Studie geben 57 Prozent der Muslime an, keine Homosexuelle in ihrem Freundeskreis zu dulden, 45 Prozent meinen, Juden könne man nicht trauen, und 53 Prozent sind der Überzeugung, der Westen sei auf die Vernichtung des Islams aus. Weitverbreiteter Antisemitismus unter Muslimen geht auch aus anderen Untersuchungen hervor. So meinten in der jüngst veröffentlichten Studie «What British Muslims really think» 26 Prozent der Muslime, dass Juden für die meisten Kriege in der Welt verantwortlich seien. Für Belgien fand der Soziologe Mark Elchardus bereits im Jahre 2011 heraus, dass die Hälfte der muslimischen Schüler in Brüssel antisemitische Meinungen vertreten. Elchardus erntete daraufhin einen Sturm der Entrüstung und wurde von einer muslimischen Organisation wegen vermeintlichen Rassismus verklagt – vergebens.

Auch für die Anwendung von Gewalt im Namen des Glaubens gibt es offensichtlich eine Unterstützung bzw. Duldung, die sich nicht wegdiskutieren lässt. Eine international vergleichende Untersuchung des amerikanischen Pew-Research-Instituts zeigt, dass von den französischen, britischen und spanischen Muslimen 15 Prozent der Meinung sind, Gewalt gegen Zivilisten sei erlaubt, «um den Islam gegen seine Feinde zu verteidigen». In der bereits erwähnten Studie «Muslime in Deutschland» sagten 8 Prozent, sie seien bereit, «physische Gewalt gegen Ungläubige zu gebrauchen, wenn es der islamischen Gemeinschaft dient». Eine dänische Studie der Universität Aarhus fragte, was ein Muslim tun solle, wenn ein Jihadist auf der Flucht vor der Polizei nachts an die Tür klopfen und um Unterkunft bitten würde: 17 Prozent meinten, man solle dem Jihadisten ohne weiteres Unterschlupf bieten, und 25 Prozent gaben keine Antwort.

Ich betone es nochmals, denn es scheint mir sehr wichtig: Religiöse Fundamentalisten machen nicht die Mehrheit der europäischen Muslime aus – und die ausführlich zitierten Untersuchungen, Umfragen und Studien belegen dies. Dennoch bilden sie eine beachtliche und einflussreiche Minderheit. Viele Muslime hegen darüber hinaus Feind- und Zerrbilder, wenn es um Homosexuelle, Juden oder den Westen ganz allgemein geht. Während die meisten Muslime Gewalt und Terror ablehnen, gibt es eine Gruppe von rund 10 Prozent der Befragten, die Gewalt im Namen des Glaubens gutheissen bzw. islamischen Terrorismus billigend in Kauf nehmen.

Es braucht mutige Muslime

Angesichts dieser wohlfundierten Ergebnisse ist es nicht mehr verwunderlich, warum Salah Abdeslam und andere Jihadisten in Europa erfolgreich operieren können – und warum es so schwierig für die Sicherheitsdienste ist, sie in den Griff zu bekommen. Würden die muslimischen Gemeinschaften tatsächlich so einträchtig und entschieden dem Fundamentalismus, dem Hass und der Gewalt in den eigenen Reihen entgegentreten, wie es ihre Verbandsvertreter gerne betonen, wäre das Problem des islamischen Extremismus schon längst gelöst. Statt immer wieder das Mantra «Das hat mit dem Islam nichts zu tun» zu wiederholen und ständig von «Islamophobie» zu reden, wenn bloss legitime Kritik am Islam geübt wird, täten die Mehrheit der aufrechten Muslime und ihre Verbandsvertreter gut daran, die Situation in den eigenen Reihen unvoreingenommen zu analysieren.

Die eigentliche Bedrohung für den Islam kommt nicht aus Jerusalem oder Washington, sondern aus der Mitte ihrer eigenen Gemeinschaften. Nur ein massives und öffentlich sichtbares Aufbegehren der liberalen Kräfte unter den Muslimen ist imstande, das ramponierte öffentliche Bild des Islams zu berichtigen. An den Muslimen ist es, dafür zu sorgen, dass der ideologische Rückhalt, auf den Leute wie Salah Abdeslam angewiesen sind, endlich gebrochen wird.

Ruud Koopmans ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Abteilungsdirektor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.