Digitalversion statt Buch

Bestandsschutz hat Vorrang für die Deutsche Nationalbibliothek: Ist die Ausgabe eines Werkes sowohl gedruckt als auch digital vorhanden, muss der Nutzer mit der digitalen Version vorliebnehmen.

Joachim Güntner
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Noch betrifft die Regel vom Primat des Digitalen nur einen Bruchteil der von der DNB gesammelten Schriftwerke. (Bild: Imago)

Noch betrifft die Regel vom Primat des Digitalen nur einen Bruchteil der von der DNB gesammelten Schriftwerke. (Bild: Imago)

Das tapfere Schneiderlein erschlug sieben auf einen Streich, aber ich werde schon skeptisch, wenn jemand berichtet, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben. Als einen solchen Erfolg sucht die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) ihren Nutzern die Neufassung der Nutzungsordnung nahezubringen. Alle profitieren: die Buchbestände, weil sie geschont werden, die Leser, weil sie auf die gewünschte Lektüre sofort zugreifen und diese überdies mit einer Volltextsuche erschliessen können.

Wie das? An beiden Standorten der Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt gilt seit Anfang November die Maxime: Ist die Ausgabe eines Werkes sowohl gedruckt als auch digital vorhanden, muss der Nutzer mit der digitalen Version vorliebnehmen. Will er das gedruckte Buch, so hat er das extra zu begründen, sonst bleibt der Band im Magazin. Vorrang hat das elektronische Format. Im Katalog braucht man diese sogenannte Online-Ressource eines Titels nur anzuklicken, und schon öffnet sich der Text.

Das funktioniert allerdings nur an den in den Lesesälen aufgestellten Computern. Aufs eigene Notebook herunterladen lässt sich der Text nicht. Es dürfen auch nicht schon zwei andere Leser mit ihm beschäftigt sein. Einem dritten würde das Urheberrecht die Lektüre verwehren. Der von der DNB gepriesene Vorzug eines «komfortablen Ad-hoc-Zugriffs» relativiert sich also. Und es fragt sich, was komfortabel daran sein soll, fürs Bücherlesen auf Bildschirmplätze angewiesen zu sein. Die Pultbibliotheken des 14. und 15. Jahrhunderts legten Bücher an die Kette, um sie vor Diebstahl zu schützen. Die DNB zwingt ihre Nutzer «aus Gründen des Bestandsschutzes» an digitale Pulte.

Noch betrifft die Regel vom Primat des Digitalen nur einen Bruchteil der von der DNB gesammelten Schriftwerke. Doch wird sie die Zukunft beherrschen. Die Anzahl der E-Books, Online-Hochschulschriften, E-Papers und E-Journals wächst beständig und macht gegenwärtig schon mehr als drei Millionen Medieneinheiten aus. Die mit Bildschirmen hochgerüsteten Lesesäle werden ihr Gesicht verändern. Keine Bücherstapel mehr auf den Tischen, kein Blättern, kein Exzerpieren.

Ob man das betrauert, ist auch eine Frage der Lesegewohnheiten. Mir prägen sich Lektüren auf Papier am besten ein, Blättern finde ich komfortabler als Scrollen. Als Liebhaber des grossen historischen Lesesaals in Leipzig tröstet mich, dass der Denkmalschutz dort die Ersetzung der Tischreihen durch PC-Plätze verbietet. Aber es würde sinnlos, in diesem Idyll aus dunklem Holz und grünen Lampenschirmen zu sitzen, wenn ich dies in einer zwangsdigitalisierten Zukunft ohne Bücher aus dem Magazin tun müsste.

Eine Nationalbibliothek ist keine Bibliothek wie jede andere. Sie soll garantieren, dass nichts vom nationalen Schrifttum verloren geht. Die DNB hat den gesetzlichen Auftrag, alle deutschsprachigen, alle aus dem Deutschen übersetzten und alle von Deutschland handelnden Publikationen im Original «auf Dauer zu sichern und für die Allgemeinheit nutzbar zu machen». In der analogen Welt beissen sich Sicherung und Nutzung; denn es ist nun einmal wahr, dass ein Buch zu leiden beginnt, sobald man es aufschlägt. Die Digitalisierung winkt mit einer Lösung: Bibliotheken können Druckwerke in den Magazinen für die Ewigkeit konservieren und zugleich deren Inhalte für Abfragen parat halten. Doch unter den Fliegen, die sie mit dieser Klappe schlagen, sind auch die Leser.