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VÖLKERKUNDE Mythos zerstört

Eine Südsee-Studie der Amerikanerin Margaret Mead wurde zur Grundlage moderner Erziehungstheorien. Jetzt zeigt sich: Meads Erhebungen waren dürftig, ihre Schlußfolgerungen falsch.
aus DER SPIEGEL 7/1983

Die kleine, quirlige Amerikanerin, die am 31. August 1925 im malerischen Hafen der Südseeinsel Tutuila an Land ging, kam in der exotischen Umgebung anfangs nur mit Mühe zurecht. Das schwüle Tropenklima nervte sie, die schwer verdauliche Eingeborenenkost strapazierte ihren Magen; und wider Erwarten schwierig fand sie es, wenigstens ein paar Brocken des vertrackten Insulaner-Idioms zu erlangen.

Von New York war die Anthropologie-Studentin Margaret Mead, damals 23, einige Wochen zuvor zu ihrer ersten Expedition nach Samoa aufgebrochen, einer entlegenen Inselgruppe im Südpazifik. Dort, am Wendekreis des Steinbocks, wollte die angehende Völkerkundlerin das Sozialverhalten jugendlicher Eingeborener ergründen.

Neun Monate verbrachte sie auf den Samoa-Inseln mit dem Studium der Naturkinder. Dann kehrte sie an die New Yorker Columbia-Universität zurück und begann mit der Niederschrift ihres Forschungsberichts: Er erschien, unter dem Titel »Coming of Age in Samoa« (Mündigwerden auf Samoa), 1928 als Buch - und wurde bald zum Bestseller.

Vor den Augen der entzückten Leser zeichnete die Autorin das farbenfrohe Bild einer fast paradiesisch anmutenden Gegenkultur, die sich traumhaft abhob von der lustfeindlichen Zivilisation des S.201 Westens: Frei vom Druck puritanischer Erziehungsideale, schwärmte Margaret Mead, wachse die Jugend auf Samoa heran; liebevolle Nachsicht walte in der Kinderaufzucht, den jungen Mädchen sei es gestattet, zwanglos und spielerisch sexuelle Erfahrungen zu sammeln.

Von den quälerischen Psychodramen der Pubertät, schrieb die Forscherin, bleibe das Samoa-Jungvolk verschont, ebenso von späteren Neurosen und Schuldkomplexen. Vielleicht etwas oberflächlich, dafür aber sanft und locker gehe es auf Samoa zu zwischen den Geschlechtern - ohne Eifersucht und Rivalitätskämpfe. Ehrgeiz, Gewalttaten, Notzucht, Mord und Selbstmord, notierte die Völkerkundlerin, habe sie auf dem Südsee-Eiland nicht beobachtet.

Nun, vier Jahre nach dem Tod Margaret Meads und mehr als 50 Jahre nach dem Erscheinen ihres Samoa-Reports, hat ein Fachkollege das Frühwerk der New Yorker Südsee-Forscherin vernichtend kritisiert. Margaret Mead, so behauptet der Anthropologe Derek Freeman, emeritierter Professor an der australischen Nationaluniversität in Canberra, entfalte in ihrem Bericht ein wahrhaft groteskes Zerrbild von Samoa. So gut wie alles, was sie den sanften Insulanern nachgesagt habe, konstatiert Freeman, sei »nachweislich falsch«.

Freeman, heute 66, war erstmals 1940 nach Samoa gereist - mit dem längst als Standardwerk geltenden Mead-Buch im Handgepäck. Seither war er immer wieder dort, und mit jedem Aufenthalt verfinsterten sich seine Eindrücke von dem angeblich so heiteren Inselvölkchen. Schließlich setzte er, in einer umfangreichen Studie, die demnächst unter dem Titel »Margaret Mead and Samoa« erscheinen wird, dem lichten Samoa-Porträt der Amerikanerin ein düsteres Umkehrbild entgegen.

( Derek Freeman: »Margaret Mead and ) ( Samoa«. Harvard University Press. ) ( Cambridge. Massachusetts, and London. ) ( 364 Seiten. 20 Dollar. )

Danach

* gibt es, bezogen auf die Einwohnerzahl, auf Samoa mehr Selbstmorde, Morde und Vergewaltigungen als etwa in den USA;

* leiden die Bewohner der Inselgruppe mindestens genauso häufig wie die Industrievölker an schweren psychischen Störungen;

* werden Kinder und Jugendliche auf Samoa von ihren Eltern, aber auch von den älteren Geschwistern mit drakonischen Strafmaßnahmen malträtiert;

* zeigen die Eingeborenen eine ausgeprägte, oftmals gewalttätige Neigung zu Eifersuchts- und Konkurrenzverhalten;

* herrscht auf Samoa ein sexualfeindlicher Jungfräulichkeitskult, der, so Freeman, »womöglich weiter getrieben wird als in jeder anderen, der Anthropologie bekannten Kultur«.

Freeman, der insgesamt sechs Jahre auf Samoa zugebracht hat und bei seinen Recherchen auch die Kriminalstatistiken des Inselreichs auswerten konnte, sieht in Margaret Meads Samoa-Bild nichts weiter als eine Art Fata Morgana - einen wirklichkeitsfernen »Mythos«, den die Autorin mit erstaunlich geringem Aufwand geschaffen habe.

Mit der Sorgfalt eines Polizeiinspektors hat Freeman die lange zurückliegende Forschungsreise seiner berühmten Kollegin rekonstruiert: Fast völlig unvorbereitet war sie auf Samoa eingetroffen und hatte die ersten zehn Wochen in einem Hotelzimmer dilettantischen Sprachstudien geopfert. Dann war sie auf die Insel Tau gezogen, wo sie - alles in allem - 68 eingeborene Teenager ausfragte, die sämtlich aus drei einander benachbarten Dörfern stammten. Von ihnen bezog sie, wie Freeman nachweist, alle Informationen, aus denen sie später ihr eindrucksvolles Samoa-Puzzle zusammensetzte.

Das Ergebnis der bescheidenen Feldstudie, glaubt Freeman, habe freilich S.202 schon vorher festgestanden. Er sieht es in engem Zusammenhang mit einem seinerzeit wogenden Gelehrtenstreit, bei dem es um die Frage ging, ob das Sozialverhalten des Menschen im Guten wie im Bösen durch biologische Faktoren unverrückbar festgelegt oder - Gegenposition - durch kulturelle Einflüsse gesteuert werde, mithin korrigierbar sei.

Margaret Meads wissenschaftlicher Mentor und Doktorvater, der New Yorker Anthropologie-Professor Franz Boas, verfocht mit Elan die zweite Auffassung - das in populärem Stil verfaßte Samoa-Buch der Schülerin verschaffte seiner Theorie den Durchbruch: Die darin beschriebene Alternativ-Kultur in der Südsee schien zu beweisen, daß die Menschheit auch zu friedlichen Formen des Zusammenlebens fähig ist.

So wirkte denn Freemans Attacke gegen das Mead-Frühwerk auf die anthropologische Fachwelt, aber auch auf Millionen Laien-Leser, wie ein Schock. Gleichwohl reagierten die aufgestörten Völkerkundler eher zurückhaltend - wohl wissend, daß Freeman mit seinen Enthüllungen ihre Wissenschaft generell in Mißkredit bringen könnte: »Wie sollen die Leute nun glauben«, sorgte sich der US-Anthropologe Bradd Shore, »daß die Samoaner entweder so harmlos sind, wie Margaret Mead sagt, oder so gewalttätig, wie Derek Freeman behauptet - ich jedenfalls verstehe gar nichts mehr.«

Margaret Mead hatte, immerhin, der Völkerkunde zu früher nie gekanntem Ansehen verholfen - und das öffentliche Interesse auch sonst allzeit wachgehalten. Die eloquente, stets streitlustige Kuratorin am American Museum of Natural History in New York ließ, war sie nicht gerade auf Forschungsreisen, keine Gelegenheit aus, um zu Zeitproblemen aller Art aus anthropologischer Sicht Stellung zu beziehen.

So stritt sie gegen Rassendiskriminierung und für die Gleichberechtigung der Frau, gegen Atomkriegsgefahren und für eine liberale Kindererziehung. Um 1970, zur Zeit der weltweit aufflackernden Jugendrevolte, wurde das Stichwort Samoa abermals zur Chiffre für eine bessere, befreite Gesellschaft. Damals zirkulierte in den Studenten-Kommunen außer dem neuentdeckten Mead-Buch auch die Bußpredigt eines obskuren Samoa-Häuptlings namens Tuiavii, der dem »Papalagi«, dem rastlosen westlichen Zivilisationsmenschen - freundlich, versteht sich - die Leviten liest.

Bei ihren gesellschaftspolitischen Extratouren mußte Margaret Mead immer wieder herbe Kritik einstecken - als sie etwa 1969 für die Legalisierung von Marihuana eintrat, beschimpfte Claude Kirk, Gouverneur von Kalifornien, sie als »dirty old lady«. Daß schon damals auch ihre anthropologischen Arbeiten scharf angegriffen wurden, erregte dagegen kaum öffentliches Aufsehen. S.203

Seit jeher, meinten einige Fachleute, habe sie ihre Feldstudien im Eiltempo abgewickelt, dazu mit meist unzulänglichen Mitteln. Tatsächlich schätzte sie moderne Forschungsverfahren - Teamarbeit, Psychotests, statistische Erhebungen - nicht sonderlich; und manche Tricks der Völkerkundler, etwa verborgene Kameras oder Mikrophone, waren ihr ein Greuel: »Lauschermethoden«, fand sie, »verletzen die Menschenwürde.«

Statt dessen blieb sie zeitlebens bei ihrer Gewohnheit, ihre Beobachtungen in unzählige Notizbücher einzutragen und später im völkerkundlichen Vergleich, so Kollege Shore, »möglichst scharfe Kontraste« zwischen den verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsformen herauszuarbeiten.

Die Frage allerdings, ob Margaret Meads wissenschaftlicher Ruf den Vernichtungsschlag Freemans überleben wird, ist nun für viele Fachleute offen. Freemans kritische Analyse, räumte Anthropologe Shore ein, sei ohne Zweifel »brillant« und »chirurgisch« präzise - dennoch habe auch er wohl ein »verdrehtes Bild« von Samoa gezeichnet.

Im Grunde, meint Shore, lieferten beide, Margaret Mead wie Freeman, auf ihre Weise »flache Porträts einer Gesellschaft, um daraus ideologische Folgerungen abzuleiten« - womit nach Ansicht der »New York Times« zumindest der sichere »Beweis erbracht ist, daß auch Anthropologen nur Menschen sind«.

S.201Derek Freeman: »Margaret Mead and Samoa«. Harvard University Press.Cambridge. Massachusetts, and London. 364 Seiten. 20 Dollar.*

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