BVerwG, Beschluss vom 16.08.2010 - 2 B 33.10
Fundstelle
openJur 2011, 90976
  • Rkr:

Eine Dienstpflichtverletzung begründet im Regelfall eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung der Bundeswehr im Sinne des § 55 Abs. 5 SG, wenn sie die Einsatzbereitschaft unmittelbar beeinträchtigt, Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr besteht oder eine erhebliche Straftat darstellt.

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 3. Februar 2010 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 9 060,03 € festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Beklagten kann keinen Erfolg haben. Aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, dass die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und der Divergenz gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO vorliegen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Der Kläger wurde nach einer Dienstzeit von zwei Jahren fristlos aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit entlassen, weil er beantragt hatte, ihm Fahrtkosten für eine Umzugsreise zu erstatten, obwohl er im Fahrzeug eines Kameraden mitgefahren war. Zur Auszahlung des Erstattungsbetrages von 85,50 € kam es nicht.

Die Klage hat in der Berufungsinstanz Erfolg gehabt. In dem Berufungsurteil hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine fristlose Entlassung lägen nicht vor. Der Kläger habe zwar seine Dienstpflichten verletzt, dadurch jedoch keine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr herbeigeführt. Weder habe der Pflichtenverstoß den militärischen Kernbereich betroffen noch sei eine Wiederholung oder Nachahmung zu befürchten gewesen. Es habe sich um ein einmaliges unüberlegtes Fehlverhalten gehandelt. Der Kläger habe zwar strafrechtlich einen versuchten Betrug begangen. Die Tat stelle jedoch einen minder schweren Fall dar. Der angestrebte Schaden sei gering und der Kläger zur Tatzeit erst 18 Jahre alt und damit als Heranwachsender im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes zu behandeln gewesen. Auch sei sein dienstliches Verhalten ansonsten einwandfrei gewesen.

1. Die Beklagte wirft als rechtsgrundsätzlich bedeutsam die Frage auf, ob es mit dem Begriff der ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 des Soldatengesetzes - SG - vereinbar sei, das jugendliche Alter des Soldaten im Tatzeitpunkt und konkrete Tatumstände wie etwa die Schadenshöhe in die rechtliche Beurteilung einzubeziehen.

Damit hat die Beklagte keine rechtsgrundsätzliche Frage von entscheidungserheblicher Bedeutung für den Ausgang des vorliegenden Rechtsstreits dargelegt. Der gesetzliche Begriff der ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend geklärt. Danach lässt sich die aufgeworfene Frage der Beklagten ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantworten (vgl. Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90 <91> = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f.; stRspr).

Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die Vorschrift soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Die fristlose Entlassung stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 5 SG ergibt sich, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss. Dies ist von den Verwaltungsgerichten aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen (Urteile vom 9. Juni 1971 - BVerwG 8 C 180.67 - BVerwGE 38, 178 <180 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 5 S. 2 f.; vom 31. Januar 1980 - BVerwG 2 C 16.78 - BVerwGE 59, 361 <362 f.> = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 8 S. 5 f. und vom 24. September 1992 - BVerwG 2 C 17.91 - BVerwGE 91, 62 <63 f.> = Buchholz 236.1 § 55 SG Nr. 13 S. 2 f.).

Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (Urteile vom 9. Juni 1971 a.a.O.; vom 31. Januar 1980 a.a.O.; vom 20. Juni 1983 - BVerwG 6 C 2.81 - Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 11 S. 13 f. = NJW 1984, 938 und vom 24. September 1992 a.a.O.).

Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können (vgl. Urteile vom 9. Juni 1971, vom 31. Januar 1980, vom 20. Juni 1983 und vom 24. September 1992, jeweils a.a.O.).

Das Oberverwaltungsgericht hat diese dargestellten Auslegungsgrundsätze dem Berufungsurteil zugrunde gelegt und auf den festgestellten Sachverhalt angewandt. Es hat den versuchten Reisekostenbetrug des Klägers zutreffend weder dem militärischen Kernbereich zugeordnet noch als eine Straftat von erheblichem Gewicht angesehen. Auch hat es keine Anhaltspunkte für eine Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr festgestellt. Das Oberverwaltungsgericht hat eine ernstliche Gefährdung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG nicht wegen des jugendlichen Alters des Klägers im Tatzeitpunkt oder wegen der geringen Höhe des angestrebten Schadens verneint. Vielmehr hat es auf diese Gesichtspunkte abgestellt, um die Straftat des Klägers als "minder schweren Fall" zu bewerten. In diesem Zusammenhang steht auch der Verweis auf disziplinarrechtliche Sanktionsmöglichkeiten bei innerdienstlichen Betrugsversuchen von Beamten.

Die Beklagte wendet sich in der Sache gegen die fallbezogene rechtliche Würdigung des Oberverwaltungsgerichts, der sie ihre abweichende Würdigung entgegensetzt. Einen Bedarf an der weiteren Klärung des Gefährdungsbegriffs des § 55 Abs. 5 SG zeigt sie nicht auf. Im Übrigen läuft ihre Rechtsauffassung darauf hinaus, auch Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs ohne Berücksichtigung fallbezogener Umstände als ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung zu behandeln. Dies lässt sich weder mit dem Normzweck des § 55 Abs. 5 SG noch mit dem darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbaren.

2. Die Beklagte hat auch eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht dargelegt. Das Berufungsurteil steht nicht in Widerspruch zu einem Rechtssatz, den das Bundesverwaltungsgericht in den von der Beklagten angeführten Entscheidungen zum Bedeutungsgehalt des § 55 Abs. 5 SG aufgestellt hat (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 n.F. VwGO Nr. 26). Dies folgt schon daraus, dass sich die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht damit befassen, welche Bedeutung dem jugendlichen Alter des Soldaten im Tatzeitpunkt oder der geringen Höhe des angestrebten oder verursachten Vermögensschadens bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs im Rahmen des § 55 Abs. 5 SG zukommt. So lagen den Urteilen vom 9. Juni 1971 (a.a.O.) und vom 31. Januar 1980 (a.a.O.) Dienstpflichtverletzungen im Kernbereich zugrunde, weil sie geeignet waren, die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr unmittelbar zu beeinträchtigen. In dem Urteil vom 20. Juni 1983 (a.a.O.) hat das Bundesverwaltungsgericht eine ernstliche Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr durch eine außerdienstlich im Vollrausch begangene versuchte räuberische Erpressung aufgrund einer Gesamtwürdigung der Tatumstände verneint.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht für das Beschwerdeverfahren auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 GKG.