The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20120627185500/http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/KULTUR/Das-Licht-ist-schwarz-artikel7953764.php
Eine Art Selbstporträt: eine Arbeit aus dem Zyklus "Morgner überschreitet den See bei Gallenthin" (1983/84).

Foto: Katalog

Das Licht ist schwarz

Der in Chemnitz-Einsiedel lebende Künstler Michael Morgner wird am Freitag 70

Chemnitz. Ein grünes Krokodil wohnt im roten Haus, das zwischen Bäumen hoch am Hang über Einsiedel thront. Zwei weiße Säulen stehen an der Einfahrt, der Weg ist steil, schlängelt sich nach oben. "Den ersten Gang einlegen, dann schafft man das schon", rät Michael Morgner am Telefon. Das Krokodil hat Zähne. Doch die beißen nicht, sie sind aus Gummi. Ein Saugnapf hält den winzigen Kopf des Plaste-Reptils an der Glasscheiben-Tür fest, die im roten Haus ins "schwarze Zimmer" führt, wie es Morgner nennt. "Vermutlich ist dies das einzige Wohnzimmer in Sachsen mit schwarz gestrichenen Wänden", sagt er. Nur die Decke ist grau.

Grau, schwarz und braun - das sind sie, die Farben des Malers, Grafikers und Bildhauers Michael Morgner. An der Wand hängen drei Bilder, die aussehen, als wären sie von ihm. Es sind jedoch die Arbeiten eines Franzosen, die - wie Morgner verrät - recht günstig waren. Und warum so preiswert? Die Antwort des Verkäufers: Dunkel und christlich, das wolle keiner haben. "Dem geht's so wie mir", sagt Morgner. Und stapelt tief. Denn erst vor kurzem war eine Dame vom Sprengel-Museum Hannover bei ihm in Einsiedel, um Zeichnungen für eine Ausstellung auszuwählen.

Eine Schau im Sommer in einem der renommiertesten Kunstmuseen dieser Republik, weitere Ausstellungen in Berlin und Frankfurt am Main, vier Bücher, eine Grafik-Mappe - das Jahr ist noch jung und schon voller Projekte. Im Atelier-Trakt, der wie ein Bauch voller Bilder aus dem roten Haus heraus wächst, zieht Michael Morgner eine weiße Schublade nach der anderen auf, legt die Blätter einer Grafik-Reihe auf dem Beton-Fußboden aus.

"Ich kann nicht mehr", steht auf jedem Papier, das seinen Ursprung in den 1980er-Jahren hat - "...als ich die Schnauze voll hatte von der DDR", erklärt Morgner. Je nachdem, wie er den Satz nun spontan übermalte, blieben Wortfetzen übrig, aus denen der Zufall spricht: "Ich nicht", "Ich kann", "Ich kann mehr", "Ich". Im kleinen Vorraum, der das Atelier mit dem Wohnhaus verbindet, hört man den Stundenschlag einer Uhr - einer hölzernen Jugendstil-Standuhr. Um diese herum hängen Familienfotos wie die Blätter eines reich verzweigten Baumes. Vater, Mutter, Frauen, Kinder, Enkel.

In zwei Bänden, die gerade in der Rudolstädter Burgart-Presse erschienen sind, erzählt Michael Morgner - neben Radierungen und Skizzen - in sieben kurzen Texten, die sich wie Gedichte ausnehmen, die Eckpunkte seines Daseins. Das Leben im Zeitraffer, sieben Worte, sieben Kapitelüberschriften, zum Beispiel "Mutter" - die ihn auf dem Arm hält, ihm Schutz gibt im von Weltkriegsbomben zerstörten Heimatort. "Vater" - der erst 1950 aus der Kriegsgefangenschaft nach Einsiedel zurückkehrt, da war sein Junge schon acht. Oder "Traumatelier" und "Am Rande" - nicht mehr im Mittelpunkt stehend, "...ich lebe noch. Warum?"

Fast prophetisch komme ihm diese Frage heute vor, sagt Morgner, fast drei Monate, nachdem ihn der Schlag traf. Er kann wieder gehen, sehen, Arme und Hände bewegen, die Lähmung im Gesicht ging zurück. Eine ganz persönliche Leidensgeschichte hat er hinter sich, eine Auferstehung - er, dessen Leitmotiv "Ecce Homo" ist, sein großes Thema über all die Jahre hinweg, der Ausruf des Pilatus, der dem gegeißelten Christus galt: Seht, ein Mensch! Ein Mensch, der Mitleid braucht.

Durchs große Panoramafenster im schwarzen Zimmer kommt viel Licht, sieht man den zersplitterten Stumpf eines alten Baumes, den so leicht nichts umgehauen hätte - bis ein Orkan kam und sein Leben brach. "Der Baum, die Landschaft da draußen - in meinen Bildern finden sie sich wieder. Ich brauche das Dorf. Deshalb bin ich hier nie weggegangen. Ich war mir immer zu normal", erzählt Morgner. Und muss an Ernst Ludwig Kirchner denken, den in Chemnitz aufgewachsenen Berliner Großstadt-Expressionisten, der seine Fantasie mit Drogen beflügelte.

Sogar den Rotwein habe ihm der Arzt nun verboten, seufzt Morgner, der als Mediziner-Sohn selbst Arzt werden sollte, sich davor drückte und sich zum Gebrauchsgrafiker ausbilden ließ. Denn er wollte Künstler sein, sich eines erobern: "Das innerste Reich" - so heißt einer von zwei soeben erschienenen Gedichtbänden mit Texten des Chemnitzer Arztes Mathias Jähnig, die er mit seiner Kunst versah. Die Rückseite eines Morgner-Bildes eröffnet das Buch. Ein vermeintliches Ende kann auch ein Anfang sein.

Berlin, Prenzlauer Berg, Paul-Gerhardt-Kirche: Noch bis zum Ostersonntag-Morgen wird ein von Morgner entworfenes Fastentuch das Christus-Altarbild verhüllen. Ein alter Brauch. Michael Morgners archaische Bilder sprechen die Sprache der Oster-Botschaft: Ecce Homo - seht, wie nah Schmerz, Passion und Tod, Auferstehung und neue Kraft beieinander liegen. Das Licht ist schwarz, bevor es hell wird.

Morgen wird Morgner 70 Jahre alt. Am Karfreitag, am Sterbetag Christi, feiert er Geburtstag. "Mein schönstes Geschenk in diesem Jahr ist wohl der Altenbourg-Preis des Altenburger Lindenau-Museums, den ich erhalte - immerhin hat den auch schon Cy Twombly bekommen", sagt er und ist stolz. Eine Krokodilsträne vor Freude darf da schon sein.

 
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Das Licht ist schwarz
Zur Person: Michael Morgner
 
erschienen am 05.04.2012 ( Von Ulrich Hammerschmidt )
© Copyright Chemnitzer Verlag und Druck GmbH & Co. KG
 
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