Auf lange Sicht

Warum in Basel, Zug und Neuenburg die Lohnschere aufging

Im sechsten Teil der Serie über Ungleichheit analysieren wir die Entwicklung in den Kantonen – und diskutieren die Folgen des Steuerwettbewerbs und der Personen­freizügigkeit.

Von Oliver Hümbelin, 26.08.2019

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Gut verdienende Schweizer wohnen häufig rund um Zürich, in Basel oder am Genfersee. Wenig Verdienende leben im Wallis, im Tessin oder in Südbünden: Das haben wir im letzten Beitrag der Serie über Ungleichheit bereits gezeigt.

Was wir in jenem Beitrag unterschlagen haben: Nicht jede Zürcherin kann sich ein luxuriöses Appartement und einen Porsche leisten – und nicht jeder Walliser ist ein armer Schlucker. Ungleichheiten existieren mit anderen Worten nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb geografischer Räume.

Genau diesen Ungleichheiten widmen wir uns heute. Und zwar auf der Ebene der Kantone: Wir untersuchen, wo sie sich verändert haben und warum.

1. Der Ist-Zustand

Wir beginnen, indem wir die Kantone auf einem Koordinaten­feld verteilen.

  • Links auf diesem Feld sind Kantone mit tiefen Durchschnitts­einkommen, rechts sind die Kantone mit hohen Einkommen.

  • Oben sind die Kantone mit hoher Ungleichheit, unten sind die Kantone mit niedriger Ungleichheit.

Jeder Kanton erhält so sein eigenes Plätzchen im Koordinaten­feld.

Das Feld der Kantone

Durchschnittseinkommen und Ungleichheitsindex, 2015

Deutschschweiz (stabil)
Deutschschweiz (steigend)
Westschweiz
Grenzkanton
Zentralschweiz
AG BE GR SG SO AI AR BL GL SH TG ZH FR JU NE VD VS BS GE TI LU NW OW SZ UR ZG 0,35 0,40 0,45 0,50 0,55 0,60 0,65 Gini-Koeffizient 30’000 40’000 50’000 60’000 70’000 mittleres Einkommen

Quelle: ESTV. Bezugsgrösse sind die Reineinkommen von Steuerhaushalten. Diese wurden mittels einer Äquivalenz­skala so gewichtet, dass sie dem Einkommen eines Einpersonen­haushaltes entsprechen. Als Ungleichheits­mass dient hier der Gini-Koeffizient. Er nimmt den Wert eins an, wenn ein Haushalt das gesamte Einkommen besitzt, und beträgt null, wenn alle gleich viel besitzen. Wenn Sie mit dem Cursor auf die Punkte fahren, erhalten Sie die detaillierten Angaben.

Blickt man über dieses Feld, so stechen einige Unterschiede sofort ins Auge. Zum Beispiel fallen drei Kantone aus der Zentral­schweiz auf: Zug, Obwalden und Schwyz (oben rechts). Die dortigen Haushalte erzielen im Schnitt sehr hohe Einkommen. Doch diese Einkommen sind relativ ungleich verteilt.

Man sieht auch: Es gibt einen Zusammen­hang. Je höher die Einkommen in einem Kanton sind, desto höher ist dort tendenziell auch die Ungleichheit. Das ist kein Zufall. Gerade in kleineren Kantonen kann bereits eine Handvoll gut verdienender Personen die Statistik prägen – indem sie einerseits den Einkommens­durchschnitt anhebt und anderer­seits die Ungleichheit steigert.

Viele Kantone stehen im Koordinaten­feld unten links. Die Einkommen sind dort verhältnis­mässig gut verteilt, aber nicht sehr hoch. Kantone wie Glarus, Freiburg, Luzern oder Bern fallen in diesen Pulk.

Auffallend sind schliesslich die Extreme. Schlusslicht in Sachen Wohlstand ist das Wallis – für sein tiefes Einkommens­niveau weist es eine beträchtliche Ungleichheit auf. Sehr egalitär – aber nicht sehr reich – ist der Kanton Uri, ganz im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Zentral­schweizer Nachbarn.

2. Die zeitliche Entwicklung

Waren diese Nachbarn immer dort situiert, wo sie jetzt sind? Und wie ist Genf, das ungleich, aber doch nicht reich ist, in seine jetzige Lage geraten?

Um das zu beantworten, schauen wir uns die Veränderungen über die Zeit an, und zwar von 2003 – dem Zeitpunkt, an dem alle Kantone vom zweijährigen Steuer­veranlagungs­system mit Vergangenheits­bemessung auf das einjährige System mit Gegenwarts­bemessung umgestellt haben, was eine konsistente Datenbasis ergibt – bis 2015, dem aktuellsten Jahr, für das Daten vorliegen.

Der Übersichtlichkeit halber teilen wir die Kantone in fünf Gruppen auf und fokussieren grafisch auf eine der beiden Dimensionen: auf die Ungleichheit.

Deutschschweiz zum Ersten

Die erste Gruppe umfasst einige Kantone in der Deutsch­schweiz. Diese zeichnen sich durch eine bemerkens­werte Stabilität und eine eher tiefe Ungleichheit aus, was sich in Gini-Koeffizienten von 0,4 bis 0,46 ausdrückt.

Stabile Verhältnisse

Gini-Koeffizient in Deutschschweizer Kantonen

Achse gekürzt 2003 2009 2015 0,46 Graubünden 0,44 Bern 0,42 Solothurn 0,42 St. Gallen 0,40 Aargau

Quelle: ESTV. In St. Gallen wurde der Datenpunkt für 2004 entfernt, weil es sich um einen Ausreisser handelt.

Manchenorts, wie in Graubünden, ging die Ungleichheit sogar leicht zurück, und dies bei über­durchschnittlichem Wohlstands­wachstum. Am stabilsten waren die bevölkerungs­reichen Kantone Bern und St. Gallen, auch im Aargau blieb die Ungleichheit bei hohem Wohlstand vergleichs­weise tief.

Deutschschweiz zum Zweiten

Nicht alle Deutsch­schweizer Kantone entsprechen jedoch diesem Muster. In den beiden Appenzell, zwei Kantonen mit tiefen Steuer­sätzen für Wohlhabende, hat die Ungleichheit zugenommen. Auch in Schaffhausen und im Thurgau sowie in Baselland und Glarus ist der Gini-Index um einige Hundertstel gestiegen.

Das trifft auch auf Zürich zu, den wirtschafts­stärksten Kanton der Schweiz mit Ablegern von inter­nationalen Konzernen wie Bayer, Google und Pfizer.

Leichte Zunahme

Gini-Koeffizient in Deutschschweizer Kantonen

Achse gekürzt 2003 2009 2015 0,48 Zürich 0,46 Appenzell I. 0,45 Appenzell A. 0,45 Baselland 0,42 Schaffhausen 0,42 Thurgau 0,40 Glarus

Quelle: ESTV. In Appenzell Innerrhoden wurde der Datenpunkt für 2009 gelöscht, weil es sich um einen Ausreisser handelt.

Alles in allem sind die Wohlstands­unterschiede in dieser zweiten Gruppe von Deutsch­schweizer Kantonen aber moderat. Der Gini-Index liegt in den meisten von ihnen unter dem Gesamt­schweizer Mittel von 0,48.

Westschweiz

Demgegenüber fand in der Westschweiz eine deutlichere Zunahme der Ungleichheit statt, wie an der folgenden Grafik erkennbar ist.

Aufeinanderprallende Welten

Gini-Koeffizient in Westschweizer Kantonen

Achse gekürzt 2003 2009 2015 0,51 Wallis 0,51 Waadt 0,47 Neuenburg 0,44 Freiburg 0,43 Jura

Quelle: ESTV.

Grund dafür ist eine Kombination von Faktoren. Einerseits zählen die mittleren Einkommen in den Kantonen Wallis, Jura, Freiburg und Neuenburg zu den schweizweit tiefsten. Die Arbeitslosen­quoten in diesen Regionen sind hoch, der Niedergang der Uhren­industrie noch nicht verdaut.

Andererseits liegen die Kantone im Einzugs­gebiet des Genfersees, wo attraktive Unternehmens­steuersätze zu einem Zuzug von Firmen und Arbeits­kräften geführt und prächtige Wohnlagen Pauschal­besteuerte aus dem Ausland angezogen haben. So vermischten sich in Kantonen wie Neuenburg oder Freiburg der steigende Wohlstand und die bestehende Armut, was zu einem Anstieg der Gini-Indizes um jeweils rund 5 Hundertstel geführt hat.

Grenzkantone

Noch stärker brodelt es in drei Grenz­kantonen: Basel-Stadt, Genf und Tessin. Hier ging der Gini-Index seit 2003 um bis zu 8 Hundertstel hoch.

Dem Wettbewerb ausgesetzt

Gini-Koeffizient in Grenzkantonen

Achse gekürzt 2003 2009 2015 0,60 Genf 0,52 Basel-Stadt 0,52 Tessin

Quelle: ESTV. In Genf wurde der Datenpunkt für 2014 und im Tessin jener von 2004 entfernt, weil es sich um Ausreisser handelt.

Warum? In Basel-Stadt dürften die Pharma­konzerne das Lohngefüge beeinflusst haben. Sie zogen Hoch­qualifizierte mit guten Löhnen an. Auch in Genf wurden hoch bezahlte Jobs bei internationalen Organisationen, Banken und Handels­firmen geschaffen. Beiden Kantonen geht es wirtschaftlich gut.

Allerdings scheinen nicht alle Schichten gleicher­massen vom Wohlstand zu profitieren. Die Löhne für mittel bis schlecht Qualifizierte konnten nicht mithalten.

Eine mögliche Erklärung dafür ist die Personen­freizügigkeit, die seit 2005 gilt und ausländischen Arbeits­kräften in den Grenz­kantonen den Zugang zum Arbeits­markt vereinfachte. Auch im Tessin dürfte dies den Anstieg der Ungleichheit erklären. Die mittleren Einkommen waren dort sogar leicht rückläufig.

Zentralschweiz

In der Zentral­schweiz nahm die Ungleichheit aus einem anderen Grund zu. Weniger in Luzern und Uri, aber umso mehr in Zug, Obwalden und Schwyz.

Diese Kantone haben in den letzten Jahrzehnten stark an den Steuer­sätzen geschraubt. Die Steuer­progression ist dort schweizweit am flachsten und die Belastung von Personen mit hohen Einkommen sehr tief. Im Kanton Zug beispiels­weise wird ein Einkommen von 500’000 Franken lediglich mit etwa 10 Prozent belastet, während anderswo 20 bis über 25 Prozent anfallen. Auch haben Obwalden und Schwyz als einzige Kantone die Erbschafts­steuer gänzlich abgeschafft. Darauf sprechen besonders Wohlhabende gut an.

Als Folge stieg die Ungleichheit teils kontinuierlich, teils sprunghaft an.

Steuerwettbewerb in Aktion

Gini-Koeffizient in der Zentralschweiz

Achse gekürzt 2003 2009 2015 0,58 Schwyz 0,57 Zug 0,50 Nidwalden 0,62 Obwalden 0,43 Luzern 0,38 Uri

Quelle: ESTV. In Zug wurde der Datenpunkt für 2011 entfernt, weil es sich um einen Ausreisser handelt.

Am auffälligsten geschah dies im Kanton Obwalden. Der Gini-Koeffizient stieg dort innerhalb nur eines Jahres um über 16 Hundertstel. Ob es sich um einen Daten­ausreisser handelt, der im nächsten Jahr wieder korrigiert wird, muss sich zeigen. Jedenfalls gilt in Obwalden seit 2008 eine Flat-Rate Tax, von der ebenfalls hauptsächlich die Gut­verdienenden profitieren.

Fazit

Die Schweiz weist eine ausgeprägte föderale Struktur auf. Bund, Kantone und Gemeinden teilen sich die politische Macht. Sie greifen unterschiedlich stark und mit verschiedenen Zielen ins regionale Gefüge ein. Das hat zur Folge:

  • dass es zwar viele gemeinsame Grundsätze dafür gibt, wie das Zusammen­leben in der Schweiz geregelt ist;

  • dass die Politik für Reiche und Arme jedoch regional stark variieren kann. Steuer­progression, Pauschal- und Erbschafts­steuern sowie die Sozial­leistungen sind kantonal unterschiedlich ausgestaltet.

Neben der wirtschaftlichen Dynamik von Metropolitan­räumen können also auch lokale Regeln einen Einfluss auf die Verteilung des Wohlstands haben. Das Schweizer Steuer­system mit seinen vielen Stell­schrauben, an denen die Kantone selbstständig drehen, begünstigt in der Tendenz die Ungleichheit.

Instrumente wie der Finanz­ausgleich verhindern zwar hierzulande, dass der Steuer­wettbewerb unter den Kantonen ausartet. Solche Instrumente fehlen aber auf globaler Ebene. So werden dank tiefen Steuern viele Wohlhabende aus dem Ausland in die Schweiz gelockt. Die Rechnung mag für die Schweiz vorerst aufgehen, nachhaltig ist sie im inter­nationalen Kontext aber nicht.

Während die Wirtschaft zunehmend ungebunden von geografischen Gegebenheiten funktioniert, bleiben das staatliche Handeln und dessen Finanzierung an ein bestimmtes Territorium gebunden. Wie sich die Ungleichheit global und in der Schweiz weiter­entwickelt, hängt deshalb entscheidend davon ab, wie gut es gelingt, diese Kräfte auszubalancieren.

Zu den Daten

Sie stammen von der Eidgenössischen Steuer­verwaltung (ESTV). Der Vorteil dieser Quelle ist, dass sie als einzige solche kantonalen Vergleiche zulässt, wie wir sie für diesen Text angestellt haben, und dass sie die finanziellen Verhältnisse auch besonders Wohlhabender weitgehend akkurat abbildet. Nachteilig wirkt sich aus, dass alle bedarfs­abhängigen Sozial­leistungen wie die Sozialhilfe oder auch Prämien­verbilligungen nicht erfasst sind. Entsprechend kann das verfügbare Einkommen der tiefsten Einkommens­klassen schlecht abgebildet werden. Ebenfalls nicht abgebildet wird die ausgleichende Wirkung der direkten Steuern (Bundes­steuer, Kantons- und Gemeinde­steuern). Alles in allem wird die Ungleichheit so etwas überschätzt, aber über alle Kantone auf ähnliche Weise.

Zum Autor

Oliver Hümbelin ist promovierter Sozial­wissenschaftler. Er unterrichtet am Zentrum Soziale Sicherheit der Berner Fach­hochschule. Im Rahmen zweier durch den National­fonds finanzierter Projekte forscht er über Ungleichheit, Armut und die Bedeutung des Wohlfahrts­staates auf der Basis von Steuerdaten.

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