Ein Thurgauer unter Zugzwang – Seite 1

Die Kapelle setzt zum Trommelwirbel an, als der Zug in die Maschinenhalle einfährt. Die rote, spitze Schnauze der Lokomotive glänzt im grellen Neonlicht. Ein Platzsprecher kündigt die beiden Männer an, die dem Zug entsteigen und von denen der mit dem Schnauzbart hier in Belarus eigentlich keiner Vorstellung bedarf: Alexander Lukaschenko. Frauen in bunten Trachten reichen ihnen die Scheren auf einem Silbertablett, mit denen sie daraufhin, unter Standing Ovations, das rote Band durchschneiden. Auf die Wand sind Landesflaggen und -wappen projiziert, vor der Bühne sitzt dicht gedrängt, was in der "letzten Diktatur Europas" Rang und Namen hat: hohe Beamte, der Außenminister, der Ministerpräsident.

Aber der Mann neben Alexander Lukaschenko ist kein Regierungschef, kein Präsident, sondern der Schweizer Unternehmer Peter Spuhler. Es ist November 2014, als dessen Firma Stadler Rail in Fanipal, einer 13.000-Einwohner-Kleinstadt im Umland der belarussischen Hauptstadt Minsk, ein Montagewerk eröffnet. 50.000 Quadratmeter groß, 1400 Mitarbeiter, 73 Millionen Euro teuer. Später schreitet Spuhler mit Lukaschenko die Montagehalle ab, sie beklopfen Drehgestelle, mustern Wagenkästen. Die Szenen schaffen es sogar in die Abendnachrichten. Dass ein westlicher Investor in Belarus eine Fabrik eröffnet, geschieht nicht alle Tage. Spuhler könne "ein Vorbild für andere ausländische Unternehmer sein", zitiert die Nachrichtensprecherin Lukaschenko.

Es sind Bilder aus besseren Zeiten. Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen herrscht im 9,4-Millionen-Einwohner-Staat der Ausnahmezustand. Das Regime überzieht das Land mit Verhaftungen, Folter und Gewalt – zuletzt zwang es sogar einen Ryanair-Linienflug zur Notlandung, um einen Regimekritiker festzunehmen. Kein Wunder, spricht man bei Stadler Rail nicht mehr gerne über das Geschäft im Osten. Eine Anfrage der ZEIT zu einem Gespräch oder einem Statement lehnt Spuhler ab. Man habe dazu in den Medien "schon alles gesagt", erklärt ein Sprecher. Viel ist das allerdings nicht. "Es ist nicht die Aufgabe eines Schweizer Unternehmens, die Politik eines anderen Landes zu bewerten oder darauf Einfluss zu nehmen", sagte Spuhler einmal. "Wir werden uns sicher nicht in innenpolitische Angelegenheiten einmischen", ein anderes Mal.

Der Zugbauer Stadler Rail wurde 1942 in Bussnang im Kanton Thurgau gegründet. Peter Spuhler, der in die Familie einheiratete, übernahm 1989 die kleine Firma und machte sie zu einem börsennotierten Eisenbahnbauer, mit weltweit 14 Produktionsstandorten, 12.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von drei Milliarden Schweizer Franken.

Heute ist sie die Nummer fünf unter den globalen Zugbauern. Die SBB setzen ebenso auf Stadler-Züge wie die private österreichische Westbahn und bald auch die Deutsche Bahn. Vor zehn Jahren bahnte Spuhler, der lange für die SVP im Nationalrat saß, dort aber nicht als rechtspopulistischer Haudrauf, sondern als liberaler Wirtschaftspolitiker auffiel, die ersten Geschäfte mit Belarus an. Als ehemaliger Eishockeyprofi teilt er mit Alexander Lukaschenko die Leidenschaft für den körperbetonten Mannschaftssport. "Seine Züge sind so komfortabel wie ein Mercedes", soll Lukaschenko einmal über Spuhler gesagt haben. Der Schweizer wiederum schwärmte vom Fleiß und Know-how der Belarussen – bei einem Durchschnittslohn von 430 Euro im Monat.

Das Werk bei Minsk wurde für Stadler zum Tor in den Osten. Mit Russland und Kasachstan verbindet Belarus nicht nur das Breitspur-Schienennetz, sondern auch eine Zollunion. Die ersten Züge rollten direkt nach Russland, wo Unsummen in den Ausbau der Eisenbahn investiert werden. Heute fahren sie ebenso in Aserbaidschan und Georgien. Es war eine Zeit, in der Belarus als autoritär galt, aber stabil. Schon 2010 hatte Lukaschenko innenpolitische Proteste blutig niedergeschlagen und der Westen wirtschaftliche Sanktionen verhängt. Doch als einige Jahre später im südlichen Nachbarland, der Ukraine, eine Revolution losbrach und Russland einen Krieg entfesselte, erschien der Minsker Autokrat plötzlich als das kleinere Übel an der EU-Ostgrenze: hart, aber harmlos. Stadlers Werkseröffnung fiel in diese Tauwetter-Zeit. "Schweizer Qualität trifft auf belarussische Industrie", schrieb die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, als sie das Werk mit einem Kredit über 26 Millionen Euro unterstützte.

Der heute 62-jährige Spuhler betonte immer wieder, er trenne Geschäft und Politik scharf voneinander und seine Züge kämen nicht dem Diktator, sondern der Bevölkerung zugute. Seine Audienzen beim gönnerhaft auftretenden Väterchen Lukaschenko wurden allerdings minutiös für die staatliche Propaganda ausgeschlachtet. "Gerade bei Lukaschenko, der international so isoliert ist und so wenige Staatsbesuche aus dem Westen empfängt, sind es oft Wirtschaftsführer, die diese Lücke füllen", sagt der Belarus-Experte Benno Zogg von der ETH Zürich.

"Wir sehen keinen Grund, Stadler Rail zu kritisieren"

Trotzdem: Peter Spuhler ist kein René Fasel. Der Präsident des internationalen Eishockeyverbandes fiel dem Diktator vor laufender Kamera um den Hals. Und Stadler Rail ist nicht der Lebensmittelkonzern Nestlé, auch das ein Schweizer Konzern, der noch immer Werbespots im belarussischen Propagandafernsehen schaltet. Abgesehen von je einem Auftrag für neue U-Bahn- und Inter-Regio-Züge, macht Stadler Rail kaum direkte Geschäfte mit dem Regime in Minsk. Und anders als in anderen Betrieben wurden die Mitarbeiter im Werk nicht daran gehindert, an den Demonstrationen gegen Lukaschenko teilzunehmen. "Wir sehen eigentlich keinen Grund, Stadler Rail zu kritisieren", sagt Lars Bünger von der deutsch-schweizerischen NGO Libereco, die sich für die Menschenrechte in Belarus einsetzt. Spuhler hat sich im Unrechtsstaat nicht die Hände schmutzig gemacht.

Doch es gibt Stimmen, denen das nicht reicht. Wie die von Aleś Alachnovič. Der Ökonom berät die im Exil lebende Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja. Sie war die Gegenkandidatin Lukaschenkos. Der Westen habe in Belarus eine Verantwortung, dazu gehörten auch die Unternehmen. "Wir fordern sie nicht auf, das Land zu verlassen", sagt Alachnovič. "Sondern nur, ihre Investitionen einzufrieren."

Alachnovič ist kein linker Träumer. Aber gegen einen prügelnden, folternden und mordenden Gewaltapparat seien harte Sanktionen "die einzige Waffe, die wir haben", sagt er. Auch wenn es derzeit als unwahrscheinlich gilt, dass sich die EU zu derart einschneidenen Maßnahmen durchringt, findet Alachnovič mit seinen Forderungen bei einigen Mitgliedstaaten Gehör. So sprach sich sogar der österreichische Kanzler Sebastian Kurz vergangene Woche für strengere Maßnahmen gegen Belarus aus; sein Land ist einer der größten Investoren im Lukaschenko-Staat. Der Schweizer Bundesrat hingegen hält sich bedeckt und wartet vorerst ab.

Spuhler liegt also auf einer Linie mit seiner eigenen Regierung. Dabei ist auch eine Schweizer Staatsbürgerin unter den politischen Opfern des belarussischen Regimes. Im Dezember wurde Natalia Hersche in Minsk zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie hatte einem Polizisten die Sturmhaube vom Gesicht gerissen. Spuhler solle seinen guten Draht zum Diktator nützen, um eine Freilassung der Schweizerin zu erwirken, fordern die Menschenrechtler von Libereco. Barbara Gysi, die für die Sozialdemokraten im Schweizer Parlament sitzt, hat eine Patenschaft für Hersche übernommen. Zwei Mal habe sie in Spuhlers Büro um Unterstützung angefragt, sagt sie. Eine Antwort erhielt sie nie. "Wenn man schon so auf Handschlag und Business mit Lukaschenko macht, gehört es aus meiner Sicht dazu, auch problematische Themen anzusprechen", sagt Gysi.

Bei allem Schweigen: Die politische Krise wird Peter Spuhler und seine Stadler Rail so oder so treffen. Noch vor einem Jahr gab es Pläne, das Werk in Minsk zum weltweit größten Produktionsstandort auszubauen. Das Projekt wurde inzwischen eingestellt, wie Spuhler schon im vergangenen August einräumte. Politik und Wirtschaft in einem autoritären Staat voneinander zu trennen entpuppt sich spätestens in Krisenzeiten als eine Illusion. Gerät eine Diktatur ins Wanken, bringt das auch die ausländischen Investoren unter Zugzwang.

Je nachdem, auf welche Maßnahmen sich die EU-Staaten einigen werden, könnten sie Stadler Rail zumindest indirekt treffen; zumal sich die Schweiz den Europäern vermutlich anschließen wird. Der internationale Zahlungsverkehr könnte stocken, die Exportrisiken könnten nicht mehr versichert werden, und die Währungsschwankungen könnten unkalkulierbar werden. Stadler Rail müsste zwar sein Werk in Belarus nicht schließen, aber es würde das Geschäft für Schweizer Firmen im osteuropäischen Land "auf jeden Fall erschweren", sagt Jan Atteslander, der Außenhandelsexperte des Wirtschaftsverbands Economiesuisse.

Vielleicht hat Spuhler inzwischen aber schon ganz andere Pläne im Osten. In der vergangenen Woche schrieb die ukrainische Handelszeitung Delowaja Stoliza, Stadler Rail erwäge, seine Produktion in die Ukraine zu verlegen. In der Firmenzentrale im Thurgau sagt man dazu einmal ungewohnt klar: Stimmt nicht.