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Kriegsende im ewigen Eis: Der letzte Trupp

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Privatarchiv Wilhelm Dege

Kriegsende in der Arktis Die vergessenen Haudegen

Unter dem Decknamen "Haudegen" wurde 1944 eine Gruppe deutscher Wetterbeobachter nach Spitzbergen geschickt. Die Mission war so geheim, dass ihre Teilnehmer beinahe im Eis vergessen wurden. Erst am 3. September 1945 kapitulierte der Trupp: als letzte Wehrmachtseinheit - knapp vier Monate nach Kriegsende.
Von Eike Frenzel

Immer wieder quälen sich die Männer mit den Schlauchbooten durch den Wellengang des Nordpolarmeeres. Tonnenweise Material müssen sie mit den Nussschalen an Land schaffen: Waffen, Munition, Verpflegung, Baumaterial und meteorologische Messinstrumente. Die Zeit drängt in diesen Spätsommertagen 1944: Der arktische Winter naht. Er wird den Fjord mit einem Eispanzer überziehen, in dem sich kein Boot auch nur einen Meter mehr bewegen kann. Das Wetter ist nicht die einzige Gefahr, die den Soldaten auf Nordostland, der kargen Insel nordöstlich von Spitzbergen, droht: Wenn alliierte Flieger durch die graue Wolkendecke stoßen oder ein feindliches Kriegsschiff in der Bucht auftaucht, ist ihre Operation gescheitert.

Doch sie bleiben unentdeckt. Nach einer Woche Plackerei können U-307 und das Versorgungsschiff "Karl J. Busch" wieder Kurs auf Norwegen nehmen. Zurück auf dem Eiland bleiben zwei unscheinbare Flachdachhütten aus Pressholzplatten - und elf Marinesoldaten, die zum Abschied winken. Die Männer gehören zum Unternehmen "Haudegen": Hier in der Arktis sollen sie eine Wetterstation einrichten und das deutsche Marinekommando täglich mit meteorologischen Daten füttern. Ein streng geheimes Kommando, das später ironischerweise vor allem dadurch bekannt wird, dass man es beinahe im arktischen Eis vergessen hätte: Der "Haudegen"-Trupp ist die letzte deutsche Wehrmachtseinheit, die kapituliert - im September 1945, knapp vier Monate nach Kriegsende.

Noch im Sommer 1943 kennt Siegfried Czapka die Lebensfeindlichkeit der Arktis allenfalls aus Erzählungen. Der 18-Jährige dient als Funker in Paris, in der Hauptwetterzentrale der Deutschen Kriegsmarine. Hier laufen sämtliche Witterungsprognosen von den deutschen Wetterstationen des Nordatlantiks auf und werden an die Marineeinheiten an der Küste und auf See weitergegeben. Der Obergefreite aus Schwepnitz, einer 2000-Seelen-Gemeinde nahe Dresden, lernt schnell die Reize der französischen Hauptstadt und ihrer Bistros zu schätzen - und fühlt sich an der Seine "sehr gut aufgehoben".

Kochen, backen, Iglu bauen

Dann trudelt jedoch ein streng vertrauliches Fernschreiben in seiner Dienststelle ein. Darin wirbt die Kriegsmarine um freiwillige Funker "für eine sehr kalte Gegend", wie sich der heute 85-Jährige erinnert. Ort und Dauer der Mission werden nicht genannt. Czapka meldet sich für das mysteriöse Unternehmen. "Der Krieg war damals im vollen Gange, und da wollte ich - das wird man heute nicht mehr verstehen können - auch noch mit dabei sein." Dass es kein gewöhnlicher Einsatz sein wird, weiß der 18-Jährige spätestens, als er einen Marschbefehl in das Riesengebirge erhält.

In der verschneiten Ausbildungsstation "Goldhöhe", auf 1400 Meter Höhe, wird Czapka im Winter 1943 mit 60 weiteren Freiwilligen für den unbekannten Auftrag trainiert: Die Marinesoldaten sollen geradezu exotische Fähigkeiten lernen: Skifahren, Abseiltechniken an Steilhängen und den Bau von Iglus. Meteorologen unterrichten die Männer immer wieder in der Wetterbestimmung. Auch einen Koch- und Backkurs müssen sie absolvieren - warum, das erfahren sie noch nicht.

In den Ötztaler Alpen erhalten Czapka und seine Mitstreiter ab Mai 1944 den letzten alpinen Schliff. Gebirgsjäger zeigen ihnen, wie man sich im bergigen Gelände bewegt, Gefechtsstellungen einrichtet und verteidigt. Sanitäter sorgen unterdessen für einen medizinischen Crash-Kurs: Im Zähneziehen, in der Versorgung von Schusswunden und Amputation erfrorener Gliedmaßen. Die Männer ahnen, dass sie künftig auf sich allein gestellt sein werden. Außerdem "sickert immer etwas durch", erinnert sich Czapka an kursierende Gerüchte: Der Sachse soll zu einer von drei Expeditionen gehören, die Marine und Luftwaffe demnächst aus der Arktis mit Wetterdaten versorgen werden.

"Haudegen" im "Pappkarton"

Immer wieder entsendet die Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs klammheimlich uniformierte Meteorologen in Stationen oder auf Schiffe rund um Spitzbergen, Grönland und die Nordostküste Kanadas. Aus ihren Wetterbeobachtungen lassen sich präzise Prognosen für Europa treffen: Droht den Kriegsschiffen ein Unwetter, haben die Flieger klare Sicht, oder säuft eine Bodenoffensive im Dauerregen ab? Wer das Gebräu aus Temperatur, Windrichtung und Druck in der arktischen "Wetterküche" richtig interpretiert, verschafft sich einen strategischen Vorteil. Und wer dabei vom Gegner entdeckt wird, kann kaum auf milde Behandlung hoffen. Ein ums andere Mal werden Wetterschiffe versenkt, Stationen von Kommandos ausgehoben. In der Arktis herrscht zwischen 1939 und 1945 ein regelrechter "Wetterkrieg".

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Privatarchiv Wilhelm Dege

Von der Brisanz seiner Mission erfährt Czapka erst im letzten Moment: Anfang September 1944 wartet er mit zehn Männern und 1800 Kisten Ausrüstung im norwegischen Tromsø auf den Abmarsch. Endlich wird Klartext gesprochen: Der Trupp mit dem Decknamen "Haudegen" - benannt nach dem Expeditionsleiter, dem Geografen Dr. Wilhelm Dege - soll auf der Insel Nordostland nahe Spitzbergen eine konspirative Wetterstation einrichten. Doch ihr Vorausboot, U-354, ist mit allen Mann und einem Teil des "Haudegen"-Proviants versenkt worden. Dege fragt darauf jeden seiner Männer, ob er immer noch an der gefährlichen Tour teilnehmen will. Keiner springt ab. "Das war für die damalige Zeit alles sehr freiwillig, man kann sagen: demokratisch", sagt Czapka.

U-307 ersetzt das verlorengegangene Boot und setzt den Wettertrupp gemeinsam mit dem Versorgungsschiff "Karl J. Busch" am 13. September 1944 im Rijpfjord von Nordostland ab. In den Kisten, die sich bald am Strand stapeln, befindet sich auch der Bausatz für die Unterkunft des Trupps. "Pappkarton" nennen die Männer die spartanische, 50 Quadratmeter große Hütte, die nach zwei Tagen zusammengezimmert ist. Dege lässt sie mit weißen Tarnnetzen abhängen, außerdem wird das Gelände rings um die Station vermint. Als auch die Instrumente zur Wetterbeobachtung aufgebaut sind, nimmt "Haudegen" seinen Dienst auf.

Eine "verflucht kalte Angelegenheit"

Fünfmal täglich funkt die Station verschlüsselt ihre Messungen und Beobachtungen zum deutschen Marinekommando nach Tromsø. Einmal wöchentlich muss außerdem der mit Wasserstoff gefüllte Wetterballon bis in 8000 Meter Höhe steigengelassen werden. Eine "verflucht kalte Angelegenheit", wie "Haudegen"-Chef Dege in seinen Erinnerungen "Gefangen im arktischen Eis" später schreibt. Temperaturen bis minus 50 Grad, Orkane und meterhoher Schnee lassen die Arbeit der Männer zum Knochenjob werden.

Dennoch spricht Czapka über seinen Aufenthalt im eiskalten Niemandsland von "einer wunderschönen Zeit, die ich nie vergessen werde". Die jungen Männer unternehmen Erkundungstouren über die Insel, bauen sich eine Sauna und bedienen sich an ihren üppigen Nahrungsvorräten. Rund zwei Millionen Reichsmark hat sich die Marine die Operation "Haudegen" kosten lassen - etwas mehr als die Herstellung sechs moderner Panzer. Und so essen ihre Teilnehmer in dr Arktis nicht nur Rentier-Fleisch, sondern genießen auch andere Leckerbissen, von denen die meisten Deutschen in ihren Bombenkellern 1944 nur noch träumen können. "Außer Bier hatten wir alles", erinnert sich Czapka.

Abgesehen von dem Maschinengewehr-Posten neben der Hütte erinnert auf der menschenleeren Insel ohnehin nur wenig an den weiter südlich tobenden Weltkrieg. Die Männer lassen sich lange Bärte wachsen und ziehen lediglich das an, was warmhält. "Wir mussten natürlich das Hoheitsabzeichen tragen, damit man sieht, dass wir Wehrmachtsangehörige sind", erklärt Czapka. Um die Männer während der vier Monate dauernden Polarnacht bei Laune zu halten, führt Akademiker Dege Unterricht in der kleinen Hütte ein: Literatur, Geschichte und Mathematik.

Eisbären am Plumpsklo

Was allen Teilnehmern der Wetterexpedition die Erinnerung an ihr Abenteuer erleichtert, ist die Tatsache, dass sie nicht ein einziges Mal Feindberührung haben. Dem "Haudegen"-Trupp fallen außer Rentieren nur Eisbären zum Opfer. Die Raubtiere sind so neugierig, dass Dege seine Mitstreiter nur noch zu zweit und bewaffnet zum Plumpsklo gehen lässt. Schließlich haben die weißen Kolosse einige Male dafür gesorgt, dass "Kameraden vom W.C. weg mit den Hosen in der Hand zum Stationshaus" rennen.

Im Frühjahr 1945 ist dann die Pfadfinderlager-Stimmung jedoch dahin: Im Radio und über Funk hören die Soldaten von der Kapitulation der Wehrmacht. Der Krieg ist vorbei. Die Männer sorgen sich um ihre Angehörigen in Deutschland - und um ihr eigenes Schicksal. Auf Anordnung der Briten, die mittlerweile die Hafenstadt Tromsø übernommen haben, sendet Station "Haudegen" seine Wetterberichte weiter - unverschlüsselt. Wann die Männer die Insel verlassen können, bleibt indes unklar.

"Sie müssen noch kapitulieren"

Mehrere Termine zur Abholung von der Insel erreichen den Wettertrupp - doch weder ein Schiff noch ein Flugzeug treffen auf Nordostland ein. Die strenge Geheimhaltung ihrer Mission wird der Einheit beinahe zum Verhängnis. Immer wieder fragen die Alliierten den genauen Standort von "Haudegen" ab, da die deutschen Dienststellen alle Unterlagen über das verborgene Wetterkommando vernichtet haben. Im Äther herrscht Funkstile. Czapka und seine Kameraden richten sich bereits auf einen weiteren Winter in der Arktis ein, als der erlösende Funkspruch kommt: "Abholung am 3.9. mit Schiff Blaasel."

Czapka wird den Augenblick, als der norwegische Robbenfänger "Blaasel" in den Fjord einläuft, nicht vergessen. Als dessen Kapitän Ludwig Albertsen "Haudegen"-Leiter Dege sieht, umarmen sich beide Männer - sie kennen sich von Spitzbergen-Expeditionen aus der Vorkriegszeit. Die Deutschen laden ihre norwegischen Retter zu einem letzten Festmahl in ihre Hütte ein. Bei reichlich Schnaps erinnert Albertsen plötzlich an eine nicht unwichtige Formalie. Zu Dege sagt er: "Sie müssen noch kapitulieren." Czapka lacht: "Keiner wusste, wie man das macht." Dege bietet dem Norweger seine Pistole als Zeichen der Aufgabe an. Albertsen fragt daraufhin höflich: "Darf ich die behalten?" Damit hat die letzte Wehrmachtseinheit vor norwegischen Robbenfängern kapituliert.

Die Station "Haudegen" sollte nach ihrer Auflösung Schiffbrüchigen Schutz bieten. Mittlerweile ist sie die einzige noch erhaltene deutsche Wetterstation auf Spitzbergen. Norwegen hat die Hütte auf die Liste seiner "historischen Stätten" gesetzt, seit 2010 ist der Zutritt zu dem Areal verboten. Damit dürfte die Station noch für einige Zeit erhalten bleiben.