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Konferenz von Evian: Keiner war schon zu viel

Foto: Bildarchiv Pisarek/ akg-images

Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 Als die Welt sich abwandte

Verfolgte Juden aufnehmen? Nicht bei uns. Am Genfer See versagte vor 80 Jahren die westliche Welt: 32 Staaten hielten ihre Grenzen geschlossen, als Hunderttausende Menschen um ihr Leben bangten.

Die Zahl der Flüchtlinge steigt von Tag zu Tag. Viele Staaten haben ihre Grenzen geschlossen, es kommt zu Einreisestopps und Zurückweisungen. Die Szenen im Niemandsland zwischen den Schlagbäumen sind Ausdruck hoffnungslosen Elends. Derweil bilden sich vor den ausländischen Botschaften und Konsulaten lange Schlangen, Menschen hoffen auf die begehrten Visa. Aufgrund rigoroser Bestimmungen warten indes fast alle vergebens auf rettende, gültige Ausreisepapiere.

Das klingt wie Nachrichten aus der gegenwärtigen globalen Flüchtlingskrise. Es handelt sich jedoch um beschämende historische Momentaufnahmen aus dem Jahr 1938: Die von den Nationalsozialisten verfolgten jüdischen Deutschen und Österreicher - niemand wollte sie aufnehmen.

Als sich die alarmierenden Meldungen über Repressalien und Schikanen der Nazis häuften, ergriff US-Präsident Franklin D. Roosevelt die politische Initiative. Im Frühjahr 1938 lud er zu einer Konferenz der westlichen Staatenwelt, um die Bereitschaft zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge auszuloten.

Beschleunigt hatten Roosevelts Vorstoß zweifellos die abstoßenden Bilder vom zügellosen Wüten der Nazis in Wien, nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das "Dritte Reich" am 13. März 1938. Diskriminierung und Boykott, Berufsverbote und Arisierungen, Rassegesetze und Entrechtung von Juden - ab 1933 vollzog sich das in Deutschland über Jahre, in Wien 1938 binnen wenigen Tagen.

Bloß keinen Ärger mit Nazideutschland

"Stadt ohne Seele" nennt der Historiker Werner Flügge seinen Report über diesen Zeitabschnitt: "Hitlers Parteigänger in Wien bewiesen, dass sie sein Programm sehr wohl verstanden hatten: als Lizenz zum Stehlen und Quälen. Menschen knieten am Boden und säuberten Straßen, Plätze, Trottoirs. Sie wurden öffentlich gedemütigt und verhöhnt." Der Mob jagte Juden unerbittlich und ungestraft, überfiel Wohnungen und plünderte Geschäfte.

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Konferenz von Evian: Keiner war schon zu viel

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Roosevelts Appell, diesen verfolgten Deutschen und Österreichern bei der Ausreise zu helfen, fand breite Zustimmung. Vertreter von 32 Staaten erschienen am 6. Juli 1938 zur Konferenz im Nobelhotel "Royal" des französischen Badeorts Évian-les-Bains am Genfer See. Delegationen entsandten neun europäische Staaten, fast alle nord- und südamerikanischen Länder sowie Australien und Neuseeland. Polen und Rumänien schickten nur Beobachter. Es fehlten die Sowjetunion, Japan, Ungarn und die Tschechoslowakei; Deutschland und das faschistische Italien waren nicht eingeladen.

Zusätzlich kamen Sprecher von fast 40 jüdischen und nicht jüdischen Hilfsorganisationen. Auch gut 200 Journalisten ließen sich akkreditieren - viel Auftrieb für den sonst so beschaulichen mondänen Kurort.

Ursprünglich sollte die Konferenz am Sitz des Völkerbunds in Genf stattfinden. Die Schweiz drängte jedoch auf Verlegung zur französischen Seeseite, um das immer bedrohlicher auftretende Nazideutschland, den direkten Nachbarn, nicht zu verärgern. Dieser Ortswechsel sollte sich als ein frühes, untrügliches Menetekel für die diplomatischen Beratungen im luxuriösen Hotel erweisen.

Es ging um die Rettung von etwa 550.000 Menschen, von rund 350.000 deutschen und 200.000 österreichischen Juden. Die großen drei unter den Verhandlungsführern waren der amerikanische Konferenzpräsident Myron Charles Taylor, erfolgreicher Industrieller und Roosevelt-Freund; der französische Botschafter Henry Victor Bérenger, Politiker mit literarischen Ambitionen; der britische Emissär Edward Turnour Earl of Winterton, konservativer Parlamentarier mit mäßiger Fortune.

Gemimte Empathie, lange Lamentos

Schon ihre ersten Redebeiträge offenbarten die ganze Fadenscheinigkeit ihrer Argumentation, die fortan das Konferenzklima bestimmen sollte: Ja, das Schicksal der deutschen und österreichischen Juden sei erbärmlich, ihnen müsse angesichts unmenschlicher Verfolgungen geholfen werden. Und stets schloss sich gleich das große ABER an. Es waren lange Lamentos über die eigene komplizierte Lage, die kriselnde Ökonomie, Arbeitslosigkeit, Inflation, Demografie. Zuweilen ist mindestens sublim auch ein antisemitischer Zungenschlag herauszuhören.

Die USA, so Taylor, spürten noch immer die Folgen der Depression aufgrund der Weltwirtschaftskrise; daher bleibe es beim festgeschriebenen Kontingent von jährlich 27.370 Emigranten aus Deutschland und Österreich. "Großbritannien ist kein Einwanderungsland", sagte Lord Winterton glatt heraus. Unerwähnt ließ er das Mandatsgebiet Palästina, in den Dreißigerjahren Ziel und Sehnsuchtshafen vieler jüdischer Auswanderer. Doch angesichts der Konflikte dort wollten die Briten es sich mit den Arabern nicht verderben; auch kam keine der zahlreichen Kolonien des Empire vor - ja, vielleicht ein paar in Kenia. Derweil jammerte Bérenger, Frankreich sei mit den schon beherbergten Fremden jenseits der Kapazitätsgrenze.

So fand die Évian-Konferenz jene stereotype Spur, auf der sich dann bequem auch die anderen Delegationen mit ihren restriktiven Einlassungen bewegen konnten, ob Australien, Kanada oder die Staaten Süd- und Mittelamerikas. Allein Rafael Trujillo Molena, skrupelloser Diktator der Dominikanischen Republik, ließ scheinbar großzügig eine (am Ende nur zu einem kleinen Teil eingelöste) Offerte für 10.000 Emigranten unterbreiten - ausgerechnet ein Rassist und glühender Hitler-Fan.

Aufschlussreich sind die Auslassungen bei den zehntägigen Beratungen im großen Salon des über dem Städtchen thronenden Royal. Das Wort Jude wurde zumeist ängstlich vermieden, die gängige Formel hieß Flüchtlinge. Nie fiel der Name Hitler, Nazideutschland wurde mit der harmlos klingenden Bezeichnung "Herkunftsland" überspielt. Mit diesem bewusst kaschierenden Sprachgebrauch übten sich die Vertreter der 32 Staaten zöglingshaft im "Appeasement"-Modus. Diese Politik der Beschwichtigung brachte Hitler nur wenige Wochen später mit dem Münchner Abkommen die brutale Annexion des Sudetengebiets in der Tschechoslowakei ein.

So war das Konferenzergebnis, verkündet am 15. Juli 1938, mehr als schmal: vage Absichtserklärungen, ansonsten nur die Gründung eines Flüchtlingsrats in London. Das Intergovernmental Committee of Refugees sollte mit Deutschland die Modalitäten eines geordneten Exodus der Juden aushandeln, einschließlich der Erlaubnis, ihre Güter mitnehmen zu können.

"Niemand will sie haben", jubelten die Nazis

Das aber lehnte die Reichsregierung sofort kategorisch ab, wäre damit doch der gierige Zugriff der Nazis auf jüdische Vermögen beschränkt worden. Die Delegationen jedoch müssen vom Évian-Erfolg überzeugt gewesen sein: Zum Abschluss gönnten sie sich ein Festbankett samt Feuerwerk vor dem Seepanorama.

Jubeln konnten allein die Nazis - und taten es überschwänglich. "Niemand will sie haben", kommentierte das NSDAP-Sprachrohr "Völkischer Beobachter" das läppische Resultat und fügte hämisch hinzu, dass die Konferenz Vorsorge getroffen habe, "sich vor einem Zustrom jüdischer Einwanderer zu schützen, weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat". Fast wie ein höhnisches Echo klingt auch der Satz, den 1939 ein hochrangiger kanadischer Einwanderungsbeamter zur Aufnahme von Juden in Kanada äußerte: "None is too many" - keiner ist schon zu viel.

Nur vier Monate nach Évian brachen die Novemberpogrome los, die grausigen Gewaltexzesse der "Kristallnacht" überall im "Deutschen Reich". De facto waren alle Grenzen nahezu geschlossen. Verzweifelte Juden sahen sich gezwungen, andere Fluchtwege zu suchen, wie die ausweglose Odyssee des Dampfers "St. Louis" 1939 zeigte: Die USA wie auch Kuba wiesen die 937 Flüchtlinge an Bord wie Aussätzige ab, viele von ihnen starben im KZ. Hunderttausende scheiterten mit ihren Bemühungen um Asyl durch rettende Papiere, darunter der Vater von Anne Frank, der den Visa-Wettlauf 1941 verlor und seine Familie nicht in Sicherheit bringen konnte.

Evian bedeutete eine verpasste Chance. Noch konnte zwar niemand ahnen, dass die Attacken auf Juden im Zivilisationsbruch der "Endlösung" münden würde, im industriell betriebenen Massenmord an Europas Juden. Die Konferenz historisch allein aus dem Wissen um die spätere Schoa zu beurteilen, wäre wohlfeil. Aber die Weigerung, den bedrohten jüdischen Deutschen und Österreichern Zuflucht zu gewähren, hatte katastrophale Folgen.

So geriet das plüschige Treffen am See zu einer politischen Bankrotterklärung der westlichen Demokratien, zu einem moralischen Desaster, das lange Schatten wirft. "Als die Welt die Juden verriet"  , betitelte der Publizist Jochen Thies seine Studie über Évian. Die Bitterkeit in dieser Feststellung lenkt den Blick fast zwangsläufig auf die vielen gegenwärtigen Gipfeltreffen zu den weltweiten Flüchtlingsbewegungen - allzu oft enden sie ebenfalls in unverbindlicher Phraseologie, in Hartleibigkeit und Abschottung. "Der Blick zurück lehrt eines: Wenn wir Flüchtlinge nicht mehr als Menschen betrachten, sondern nur mehr als Bedrohung", warnt die Münchner Historikerin Mirjam Zadoff im SPIEGEL-ONLINE-Interview, "zahlen wir einen hohen Preis und büßen unsere Menschlichkeit ein."