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Politik

Wie Berlin Pädophilen-Opfer im Stich lässt

Politikredakteurin
Als Marco sechs Jahre alt war, gab ihn das Jugendamt zu einem Vorbestraften. Ein Pädagoge argumentierte, das Kind habe von der „Zuwendung“ profitiert

Marco konnte das alles nicht mehr ertragen. Dass ihm die Mitarbeiter des Berliner Familiensenats ständig sagen, wie schrecklich das alles sei, was er habe erfahren müssen, und wie leid es ihnen tue. Ihm dann aber doch Steine in den Weg legen, wenn es um ein Stück Wiedergutmachung geht.

Marco, heute 37 Jahre, ist mit seiner Familie an den Stadtrand gezogen. „Ich muss raus aus Berlin“, sagt er. „Letztlich wurde ich in dieser Stadt entführt und einem Kinderschänder ausgeliefert. Ich fühle mich wohler, wenn meine Kinder, meine Partnerin und ich am Stadtrand wohnen.“

Als Marco sechs Jahre alt war, gab das Jugendamt ihn zu einem pädophilen, bereits vorbestraften Pflegevater. Kurz darauf kam auch sein Pflegebruder Sven zu Fritz H. Sieben Jahre dauerte der Missbrauch, bis die Jungen in ein Alter kamen, das für H. nicht mehr interessant war. Bleiben mussten sie trotzdem, insgesamt 14 Jahre lang – und zwar auf Anraten des Pädagogen Helmut Kentler. Er argumentierte, dass vernachlässigte Kinder von der Zuwendung von Pädophilen profitieren würden. Der Berliner Senat segnete die Unterbringung von Marco, Sven und weiteren Jungen in den 80er- und 90er-Jahren ab – ein unfassbarer Skandal der Berliner Jugendhilfe.

Die beiden Jungen wurden sexuell missbraucht, von der Außenwelt abgeschottet und körperlich misshandelt. Die Staatsanwaltschaft hat das alles bestätigt. Pflegevater Fritz H. ist tot, strafrechtlich kann niemand mehr belangt werden. In Deutschland werde beim Thema sexuelle Gewalt „ohrenbetäubend geschwiegen“, mahnte der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, erst vor einigen Tagen. Schadenersatz aber fordern Marco und Sven nun ein – und eine öffentliche Entschuldigung. „Wir klagen gegen das Land Berlin“, sagt Benedikt Mick, Marcos und Svens Anwalt.

Der Weg dahin war holprig, und auch der Senat war nicht eben hilfreich. Zwar sprach Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) anfangs noch von einem „Verbrechen in staatlicher Verantwortung“. Doch der Antrag von Marco und Sven auf Prozesskostenhilfe im vergangenen Jahr wurde abgelehnt. Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg, dessen Jugendamt die Unterbringung der Jungen damals anordnete, argumentierte, der Anspruch sei verjährt.

Ein Schock für die beiden, und auch für ihren damaligen Anwalt war das Verhalten nicht nachvollziehbar. Denn: Wenn niemand Einrede wegen Verjährung erhebt, wird sie auch im Prozess gar nicht relevant. „Nach unserem Vorgespräch hätte ich mir einen anderen Weg gewünscht“, sagte Rechtsanwalt Philipp Martens damals im Gespräch mit WELT. „Einfach, weil eine Aufklärung im Sinne aller sein sollte.“

Marco und Sven haben nun auf Facebook und Twitter einen Spendenaufruf gestartet, um die Kosten zu tragen, die bereits bei einer Anklage-Erhebung anfallen.

Auch im eigentlichen Prozess wird es nun entscheidend sein, ob das Argument der Verjährung erhoben wird oder nicht. Der Bildungssenat aber sieht sich nicht in der Verantwortung: Die Klage auf Prozesskostenhilfe habe sich gegen den Bezirk Tempelhof-Schöneberg gerichtet. Nun seien es auch der Bezirk und der Senat für Finanzen, eben zuständig für die Zahlung von Schmerzensgeld, die entscheiden müssten, ob sie in einem Prozess auf die Einrede der Verjährung verzichten könnten.

Die Senatsverwaltung für Finanzen sieht das allerdings anders. „Es ist eine politische Frage, ob man den Betroffenen im Wege einer außergerichtlichen Einigung eine Entschädigung zahlen möchte“, schreibt deren Pressestelle auf Anfrage. Dies aber sei die Entscheidung der zuständigen Fachverwaltung – also des Bildungssenats.

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Seit der Ablehnung der Prozesskostenhilfe haben Marco und Sven keinen Kontakt zum Berliner Senat mehr gehabt. „Eine richtige Aufklärung wird nur durch einen Zivilprozess stattfinden“, sagt Marco.

Mit seiner Partnerin hat er eine vierjährige Tochter und einen fünf Monate alten Sohn. „Das ist jetzt meine Lebensaufgabe“, sagt er. „Wenn ich sehe, wie hilflos der Kleine ist, wird vieles bei mir aufgewühlt. Das ist schwer zu ertragen. Ich war sechs Jahre alt und fast ebenso hilflos. Mit welchem Fug und Recht hat man einen kleinen Jungen wie mich einem vorbestraften Pädophilen gegeben? Ich bin kein Zufallsopfer.“

Marco leidet unter Panikattacken. Die ständigen Treffen mit den Anwälten, mit Beratern, die Überlegung, wie man das Geld für die Klage zusammenbekommt, die Anfragen der Presse. „Der Kampf um die Anerkennung für das, was uns angetan wurde, müsste langsam zu Ende sein“, sagt Marco. „Das werfe ich dem Senat wirklich vor, dass er das Ganze so quälend in die Länge zieht.“ Manchmal, sagt er, sei er kurz davor, alles ruhen zu lassen und aufzugeben. Immerhin bekomme er monatlich über das Opferentschädigungsgesetz eine Rente von 348 Euro. „Aber es geht einfach nicht“, sagt er. „Ich muss kämpfen.“

Sollte der Bildungssenat auf seiner Position beharren, dass die Taten verjährt sind und daher kein Schmerzensgeld zu zahlen ist, gibt es immer noch die Möglichkeit, dass beide Seiten sich auf ein Mediationsverfahren einlassen. Auch der Beauftragte der Bundesregierung hat hier seine Hilfe bereits angekündigt. Für die beiden Opfer müsse das maximal Mögliche getan werden.

Die Namen von Marco und Sven wurden geändert.

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