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Strategie zum Umgang mit Coronavirus Herdenimmunität oder Shutdown - was ist besser?

Großbritannien und die Niederlande zögerten, das öffentliche Leben wegen der Corona-Verbreitung einzuschränken. Das Virus sollte alle infizieren, die gut damit klarkommen. Jetzt wird das Experiment beendet.
Laut Schätzungen müssten sich mindesten 60 Prozent der Menschen infizieren, um für Herdenimmunität zu sorgen

Laut Schätzungen müssten sich mindesten 60 Prozent der Menschen infizieren, um für Herdenimmunität zu sorgen

Foto: Getty Images

Glaubt man Ira Helsloot, ist ein gesundes Lebensjahr 60.000 Euro wert. Eine Investition in dieser Höhe, sagt der Sicherheitsforscher in der niederländischen Tageszeitung "Volkskrant"  , sei angesichts der begrenzten finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems vertretbar, wenn ein Mensch dafür zwölf Monate länger lebt. Wird es teurer, überwiegen die Nachteile, weil zu viel Geld für zu wenig gesundheitlichen Vorteil ausgegeben wird.

Die Rechnung ist zynisch, doch genau diese Überlegung steckt hinter Entscheidungen über weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Oder anders gesagt: In welchem Verhältnis steht der Schutz von alten Menschen mit Vorerkrankungen zu einer Ausgangssperre für alle?

Reicht es nicht, wenn sich Risikogruppen in Isolation begeben und alle anderen sich häufiger die Hände waschen und in die Armbeuge husten? Genau diese Idee geistert als vermeintliche Herdenimmunität durch internationale Medien. Die Diskussion basiert allerdings auf gleich zwei Missverständnissen.

Welchen Verlauf eine Epidemie nimmt, kommt darauf an, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Sind es mehr als einer, breitet sich die Krankheit aus, sind es weniger, stagniert die Zahl der Infizierten und geht allmählich zurück.

Im Fall des Coronavirus Sars-CoV-2 liegt dieser Faktor nach aktuellem Wissensstand etwa bei 2,5. Das heißt, dass jeder das Virus an zwei bis drei weitere Menschen verteilt. Diese stecken andere an und so weiter. Ein Einzelner kann dadurch einen Prozess in Gang setzten, durch den sich innerhalb von acht Wochen 3000 Personen infizieren, rechnete der Virologe Alexander Kekulé jüngst bei "Anne Will" vor.

Irgendwann kann ein Infizierter jedoch nicht mehr zwei bis drei Menschen um sich herum anstecken, weil alle in seiner Umgebung schon an der Krankheit gestorben sind oder bereits infiziert waren und nun immun sind. Durch die Herdenimmunität kann sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten, sondern stagniert und geht zurück.

Gegen das neuartige Coronavirus gibt es eine solche Immunität nach allem, was bisher bekannt ist, nicht, weil es erst vor wenigen Monaten von einem Tier auf den Menschen gesprungen ist und sich seitdem weltweit ausbreitet. Mehrere Virologen gehen inzwischen davon aus, dass sich das Virus nicht mehr ausmerzen lässt. Um eine Herdenimmunität zu erzeugen, müssten sich laut Schätzungen 60 bis 70 Prozent der Menschen erst einmal anstecken und die Krankheit überstehen oder ein Impfstoff verfügbar sein.

Missverständnis eins: Herdenimmunität steht nicht im Widerspruch zu Quarantäne, körperlicher Distanz und Ausgangssperren. Sie ist nicht die Strategie eines einzelnen Landes, sondern passiert automatisch, je mehr Menschen sich infizieren. Die Frage ist nur, wie schnell sie erreicht werden soll. Deutschland will diesen Prozess möglichst über einen langen Zeitraum strecken.

Großbritannien und die Niederlande setzten darauf, dass Herdenimmunität auch in kurzer Zeit erreicht werden kann, ohne das Gesundheitssystem zu überlasten, wenn das Virus unter Menschen grassiert, die gut damit zurechtkommen und nur selten schwer erkranken. Das öffentliche Leben könne weiterlaufen, wenn alte und kranke Menschen Körperkontakt meiden und alle anderen auf Hygiene achteten. "Wir können die Ausbreitung des Virus verlangsamen und gleichzeitig eine kontrollierte Gruppenimmunität aufbauen", sagte Premier Mark Rutte am Montag in einer Ansprache an die Bürger.

"Wir wissen nicht genug über die Logik dieses Virus"

Für beide Varianten gibt es wissenschaftliche Argumente, doch auf Herdenimmunität zu setzen, ist ein riskantes Spiel. Denn noch gibt es viele Unbekannte in der Gleichung: Sterben 0,7 Prozent der nachweislich Infizierten wie in Südkorea oder sechs Prozent wie in Italien? Wie viele haben sich schon infiziert, ohne es zu merken? Und können Erkrankte das Virus erneut bekommen? "Wir wissen nicht genug über die Logik dieses Virus", mahnt Margaret Harris von der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Theoretisch könnte die Wissenschaft beide Thesen in Experimenten testen: Eine Testgruppe verhält sich weiter wie bisher, die andere wird aufgefordert zu Hause bleiben, kontrolliert wird das aber nicht. Am Ende werden die Toten gezählt.

Das Problem: Wer sich außerhalb des Labors für den Weg der schnellen Herdenimmunisierung entschieden hat, kann nur schwer zurück.

Forscher des Imperial College in London haben am Computer durchgespielt, was in Großbritannien passieren könnte, wenn die Epidemie nur abgemildert werden soll - zugunsten der Herdenimmunität. Demnach könnten in diesem Szenario 510.000 Menschen sterben. Wird das soziale Leben dagegen langfristig und konsequent eingeschränkt, wären es nur halb so viele. (Mehr dazu lesen Sie hier.)

Das führt zu Missverständnis zwei: Herdenimmunität ist nicht der einzige Weg aus der Krise. Mehrere Länder konnten das Virus laut offiziellen Zahlen eindämmen, ohne dass sich 70 Prozent der Bevölkerung infizieren mussten. In Singapur musste dafür nicht einmal das öffentliche Leben eingeschränkt werden, weil schon in der Frühphase der Epidemie Verdachtsfälle konsequent isoliert wurden.

Setzt Deutschland auf Herdenimmunität, müssten sich nach aktuellen Schätzungen 50 Millionen Menschen infizieren. Verläuft die Infektion bei einem Prozent tödlich, wären das 500.000 Tote. Angenommen, jeder von ihnen hätte ohne die Infektion ein Jahr länger in Gesundheit gelebt, würden sich nach der niederländischen Faustformel Investitionen von 30 Milliarden Euro lohnen. Was, wenn diese Summe ausgeschöpft ist? Lassen wir der Epidemie dann ihren Lauf?

Großbritannien und die Niederlande haben sich mittlerweile vom vermeintlichen Pfad der Herdenimmunität verabschiedet. Britische Schulen bleiben ab Freitag geschlossen, die Niederlande schließen ab Donnerstagabend die Außengrenzen für Nicht-EU-Bürger, weitere Verschärfungen nicht ausgeschlossen. Der Umschwung kam vor allem in Großbritannien auch auf Druck der Bevölkerung, die offenbar nicht Versuchskaninchen in einem Hochrisiko-Experiment sein wollte.

Anmerkung der Redaktion: Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat mittlerweile klargestellt, dass Herdenimmunität nicht das Hauptziel der Niederlande gewesen sei und sprach von einem Missverständnis. Menschen sollten sich nicht bewusst anstecken. Tatsächlich gelten in den Niederlanden ähnlich strenge Regelungen wie in Deutschland.