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Antonia Grunenberg

Antonia Grunenberg

Wir haben die diesjährige Preisverleihung unter das Motto: “1989 – 1968 – 1949: Politische Imaginationen und das Versprechen der Freiheit“ gestellt. Mit diesem Thema spielen wir darauf an, dass das politische Handeln in historisch einzigartigen Situationen immer auch zu etwas Neuem führt, zu einer politischen Gründung wie 1949 die Bundesrepublik Deutschland oder 1989 zur Erringung der Freiheit für die ehemalige DDR und zur Wiederöffnung Europas. Das Jahr 1968 steht wie eine Irritation zwischen den beiden anderen Daten. War denn 1968 ein Aufbruch der Freiheit? Nicht wenige haben dies hier zu Lande im vergangenen Jahr öffentlich bezweifelt. War dieses “Bewegung“ genannte Massenereignis vielleicht nur eine psychosoziale Generationenrevolte? Ihre Protagonisten Brüllhälse, die ihren hedonistischen Vorlieben knapp an der Grenze zur Kriminalität nachgingen? Sie alle wissen, wovon ich rede. Öffentliche Schuldbekenntnisse sind eingefordert worden. Damit einher ging der Versuch, den politischen Akten der Sechziger- und Siebzigerjahre ihren öffentlich-bedeutsamen Charakter zu nehmen und zum Ergebnis unentschuldbaren individuellen Fehlverhaltens ihrer Protagonisten zu erklären. Mit dem Untertitel “Politische Imaginationen und das Versprechen der Freiheit“ haben die Veranstalter auf etwas angespielt, das in allen drei geschichtlichen Ereignissen eine Rolle spielt: das politische Denken und das Versprechen der Freiheit. Dieses Versprechen gibt es auch 1968.
Wenn man die beiden diesjährigen Preisträger in Augenschein nimmt, so fällt einem spontan zuerst das Trennende ein: Ernst Vollrath ein Theoretiker, Daniel Cohn-Bendit ein Praktiker; der eine von der aristotelischen Tradition und vom Denken Hannah Arendts geprägt, der andere von den Straßenkämpfen und den öffentlichen Redeschlachten. Der eine ein Philosoph von der Universität, der andere ein Politiker des Hier und Jetzt. Ich bin mir auch sicher, dass Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit in den Sechziger- und Siebzigerjahren viel zu streiten gehabt hätten. Vollrath konnte die anmaßende Art von manchen der so genannten Achtundsechziger, die politische Sphäre zur “Bewegung“ zu instrumentalisieren, nicht billigen. In einem Brief an Hannah Arendt vom 5. Februar 1970 schreibt er: “Ich habe den Eindruck, daß der Moment herangekommen ist, an dem Saint-Just gesagt haben würde: la révolution est glacée. Abgesehen von der ganz anderen Lage ist dies die Folge davon, daß man sich immer noch an den verfluchten ,Bewegungscharakter‘ des Politischen angehängt hat. Es ist zum Verzweifeln!“ Es ist also ist nicht die Kritik an den Regelverletzungen, die Vollrath umtreibt, sondern dass die Studenten das Politische zur Bewegung manipulieren. Daniel Cohn-Bendit hätte freilich seinerzeit den Zugang von Ernst Vollrath zu der politischen Sphäre viel zu konservativ und theoretisch gefunden.

Was sich die Jury nun dabei gedacht hat, zwei so grundverschiedene Persönlichkeiten unter dem Dach eines Preises zusammenzubringen, möchte ich Ihnen kurz vorstellen. Beide, Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit, sind auf ihre Weise mit der Nachgeschichte des deutschen und europäischen Totalitarismus verbunden. Ernst Vollrath, indem er, den Denkwegen Hannah Arendts folgend und zugleich über sie hinausweisend, die Rekonstruktion des Politischen in den Vordergrund seines Nachdenkens stellt, Daniel Cohn-Bendit, indem er als Handelnder einen neuen Aufbruch in die Freiheit forderte.

Die zweifache Preisvergabe nimmt auch einen Gedanken wieder auf, der bei der Gründung des Preises maßgeblich war: Der “Hannah Arendt-Preis für politisches Denken“ richtet sich sowohl an Persönlichkeiten aus der Sphäre des philosophischen und politischen Denkens wie auch an solche im politischen Raum. Mit Freimut Duve und Joachim Gauck und auch mit Claude Lefort und Antje Vollmer wurden Persönlichkeiten geehrt, die etwas für das Versprechen der Freiheit getan hatten: Joachim Gauck, der das historische Verdienst hat, die Staatssicherheitsakten zur öffentlichen Einsichtnahme gebracht zu haben, Freimut Duve, der als einer der Ersten für eine europäische Intervention in Bosnien aus politischen Gründen plädierte, Antje Vollmer, die eine festgefahrene Pattsituation in den deutsch-tschechischen Beziehungen durch mutiges Auftreten außer der Reihe aufzulösen half. Claude Lefort, der die Nachwirkungen des Totalitarismus im Lichte der Ereignisse von 1989 neu überdachte.

Allen bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern ist gemeinsam, dass sie jenen Kräften widersprachen, die das Politische auf instrumentelles Handeln oder auf den Glauben an unverrückbare Werte reduzieren. Die Weltlage seit dem 11. September 2001 hat wieder einmal darauf aufmerksam gemacht, dass das reduzierte Verständnis von politischem Handeln zwar zu verständlichen Sicherheitsreflexen führt, aber die Wahrnehmung neuer Handlungsräume und Denkhorizonte eher blockiert. Ohne ein politisches Denken, das auch das heute Unmögliche anspricht, würde es heute in Mazedonien keine Verfassung geben, darauf hat Daniel Cohn-Bendit kürzlich hingewiesen. Ohne das Unmögliche zu wagen, könnte man anfügen, wird es schwerlich einen tragfähigen Frieden in Afghanistan oder im Nahen Osten geben.
Diese Dimension des unmöglichen Möglichen spielt bei den beiden Persönlichkeiten eine besondere Rolle: bei Ernst Vollrath im Nachdenken über das, was das Politische an der Politik sein könnte, bei Daniel Cohn-Bendit im Reden und Streiten über die Erneuerung des Politischen im Handeln.

Ernst Vollrath begann sein Wirken in einer Zeit, in der das Handeln im öffentlichen Raum durch den Wiederaufbau und die dringend notwendige Stabilisierung der demokratischen Institutionen gekennzeichnet war. Eine entscheidende Prägung in seinem Denken erhielt er durch die Freundschaft mit Hannah Arendt in den Siebzigerjahren sowie durch seine Lehrtätigkeit an Arendts Hausuniversität, der New School for Social Research in New York City. Durch sein Werk ist Hannah Arendt in Deutschland als politische Denkerin sui generis bekannt geworden. Als politische Publizistin war sie schon vorher weithin bekannt, wofür Dolf Sternberger sehr viel getan hatte, aber auch ihre eigenen Vortragsreisen und natürlich ihr Buch über den Eichmann-Prozess. Vollraths Büchern und Aufsätzen ist zu entnehmen, wie schwierig dieses Unterfangen war, gegen den Strom der Zeit auf einem anderen Begriff des Politischen zu beharren. Gegenüber einer Linken, die lange Zeit das Werk Arendts nicht wahrnehmen wollte, und gegenüber einem liberalen und konservativen Lager, die das arendtsche Denken zwar für sich vereinnahmten, es in seiner Vielfältigkeit aber nicht würdigen konnten, hat Ernst Vollrath beharrlich darauf bestanden, dass es mit dem arendtschen Werk etwas ganz Besonderes zu entdecken galt, eine besondere Dimension des Politischen. Worin unterscheidet sich das Politische von dem, was wir als Politik kennen: Vollrath arbeitet heraus, dass es vor allem darin liegt, dass das Politische nicht objektiv und nicht kausal ist. Mit Hannah Arendt geht Ernst Vollrath davon aus, dass politisches Handeln nicht in einer Zweck-Mittel-Relation steht. Das Gegenwärtige kann nicht aus dem Vergangenen abgeleitet werden: “Das Ereignis erhellt seine eigene Vergangenheit, niemals kann es aus ihr abgeleitet werden“1, heißt es bei Arendt. Ebenso wenig können die Folgen gegenwärtigen Handelns in der Zukunft kontrolliert werden. Das Politische ist ein Handeln, das etwas in Gang setzt, dessen Ergebnisse aber nicht kontrollieren kann. Das Politische wird von einem “Wir“ getragen; dieses “Wir“ ist der Prozess der Meinungsbildung, in dem die Handelnden urteilen. Das “Wir“ bedeutet auch, dass politisches Handeln von Einflüssen bedingt ist, die es nicht beherrschen kann, aber mit denen es in Beziehung tritt. Das ist die Pluralität des politischen Raums. In ihr herrscht keineswegs nur Harmonie; Meinungsbildung und Urteilsbildung vollziehen sich konflikthaft.
Es zeichnet Ernst Vollrath aus, dass er diese Position bezogen hat zu einer Zeit, als namhafte Denker verkündeten, Politik bestünde in der Herstellung von Einmütigkeit durch herrschaftsfreie Kommunikation. Der Preis, den Ernst Vollrath für das Beharren auf seinem Widerspruch gezahlt hat, war hoch. Er ist nur einem kleinen Kreis von Kollegen und Studierenden bekannt geworden. Ja, man kann sagen, Ernst Vollrath ist der politische Philosoph, dessen Bedeutung in der deutschen Öffentlichkeit bis heute am radikalsten verdrängt wurde. Es mag ihn ein wenig trösten, dass die Verhältnisse ihm Recht gegeben haben; doch möchte man nicht auch die Anerkennung der Zeitgenossen haben?
Die nächste Generation kann von ihm lernen, dass man für seine Position streitet, auch wenn sie gegen den Mainstream steht. Wichtiger noch ist freilich, dass Vollrath den Jüngeren mit seinen Büchern etwas Kostbares übereignet: die Kenntnis von jenem Versprechen der Freiheit, dem jede nachkommende Generation erneut gegenübersteht.

Gegen Daniel Cohn-Bendit als Preisträger ist mancherlei eingewendet worden. Lassen Sie mich deshalb kurz anführen, was nach Meinung der Jury gerade für ihn spricht. Cohn-Bendit ist biografisch und politisch eng mit Frankreich und Deutschland und ihrer Geschichte in den letzten fünfzig Jahren verbunden. Als Kind deutscher Juden, dessen Eltern aus Deutschland vertrieben wurden, ist er im Exil in Frankreich geboren, in Deutschland aufgewachsen, wieder nach Frankreich verzogen, 1968 aus Frankreich vertrieben und erneut in Deutschland tätig geworden. Heute ist er in beiden Ländern zu Hause. Seine wechselvolle Lebensgeschichte – zu der auch die Freundschaft seines Vaters zu Hannah Arendt gehört –, seine Lebensgeschichte also, ist einerseits ein Teil der vielen noch unerzählten Geschichten von Flucht, Vertreibung und ihren Nachwirkungen. Auf der anderen Seite ist sie ein lebendiges Zeichen für die Entstehungsgeschichte eines neuen Europa, an dem Cohn-Bendit mitwirkt.
Daniel Cohn-Bendit steht wie kein Zweiter für die Ereignisse von 1968, in Frankreich und in Deutschland, und zwar in dem Sinne, dass das politische Handeln, jenseits der Irrtümer, in die es läuft, immer auch etwas ermöglichen kann. Ein politisch Handelnder begibt sich immer in einen Handlungszusammenhang hinein, in dem er Irrtümern und Fehlern unterliegen kann, für die er Verantwortung trägt. Doch retrospektiv betrachtet hat Cohn-Bendit dieses 1968 als einen noch immer andauernden Auftrag angenommen, sich an der Gestaltung des neuen Europa zu beteiligen, zuerst in Frankreich, dann in Deutschland, bei der Gründung der Grünen und seit jüngstem nun als europäischer Politiker.
Mit der Preisvergabe an Daniel Cohn-Bendit hat die Jury zu erkennen gegeben, dass sie die Ereignisse von 1968 als Zäsur in der politischen Geschichte der Bundesrepublik und Europas anerkennt, in der die demokratische Frage neu gestellt wurde und ein politischer Neubeginn eingefordert wurde, dessen Impulse bis heute andauern.

Daniel Cohn-Bendit steht mit seinem Wirken als Abgeordneter im Europaparlament – ebenso wie der frühere Preisträger Massimo Cacciari – für die Schaffung einer republikanischen politischen Kultur in Europa. In seiner Lebensgeschichte und in seinem politischen Wirken wird deutlich, dass der politische Raum konfliktreich ist, zugleich aber immer die Chance des Eingreifens ins Geschehen birgt. Mit der Verleihung des “Hannah Arendt-Preises für politisches Denken“ an ihn nimmt die Jury natürlich auch auf die deutsch-französischen Beziehungen Bezug. Wie Sie wissen, haben 1996 Francois Furet (dessen Laudator Cohn-Bendit war) und 1998 Claude Lefort den “Hannah Arendt-Preis“ erhalten. Mit der Entscheidung für Daniel Cohn-Bendit möchte die Jury auch den “deutsch-französischen Ariadnefaden“ wieder aufnehmen, in der Hoffnung, die politische Kultur der Streitgespräche zwischen Frankreich und Deutschland zu beleben.
Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit verkörpern auf je eigene Weise die intellektuellen und politischen Möglichkeiten dieser Republik und dieses Europas. Gemeinsam ist ihnen, dass beide auf ihre je spezifische Weise einen Zugang zum politischen Raum freilegen. Ernst Vollrath in der Rekonstruktion des Politischen, Daniel Cohn-Bendit als politisch Handelnder. Beide sprechen wichtige Aspekte des Arendtschen Denkens an: das Handeln ins Offene und die Freilegung eines nicht-objektivistischen politischen Denkens.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte des Dankes sagen. Dass uns der Senat der Freien und Hansestadt Bremen mit seinem Bürgermeister und die Heinrich-Böll-Stiftung mit Ralf Fücks diese Preisverleihung ermöglichen, dafür danken wir ihnen herzlich. Wir sind davon überzeugt, dass das Preisgeld, das der Bremer Senat und die Böll-Stiftung aufbringt, eine gute Investition in Gegenwart und Zukunft ist.
Danken möchte ich natürlich auch meinen Mitstreitern Zoltan Szankay, Lothar Probst und Peter Rüdel und den Kolleginnen und Kollegen von der Jury für die schwierige Arbeit der Preisträgerfindung. Solch ein Preis muss immer wieder neu belebt werden, sonst verkommt er zur reinen Zierde. Der “Hannah Arendt-Preis für politisches Denken“ will bewusst auch Anstöße geben und auch ein bisschen Anstoß erregen, im wörtlichen Sinne. Dies aber geschieht nur, wenn man den Preis selbst in allen seinen Facetten auch zum Vorschein bringt.
Last but not least, im Namen der Jury und des Vorstands gratuliere ich Christian Vollrath für seinen Vater Ernst Vollrath und Daniel Cohn-Bendit zum “Hannah Arendt-Preis“ 2001.

Antonia Grunenberg: Professorin für Politikwissenschaft. Vorstandsmitglied des “Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken e.V.“ und Mitglied der internationalen Preisjury. Seit 1999 leitet sie das neue geschaffene Hannah-Arendt-Zentrum an der Universität Oldenburg


1 Hannah Arendt: Verstehen und Politik, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im Politischen Denken I, München Zürich 1994, S. 1221.


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