Zahl der Coronavirus-Fälle in Norditalien steigt weiter – gespenstische Bilder aus den Sperrgebieten

Die Epidemie begann in einem Regionalspital. Die Bevölkerung versucht sich vor Neuansteckungen zu schützen.

Andres Wysling, Rom
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Gesichtsschutz, Handschuhe: Eine Frau spricht mit einem Polizisten in Bertonico, im Sperrgebiet südlich von Mailand.

Gesichtsschutz, Handschuhe: Eine Frau spricht mit einem Polizisten in Bertonico, im Sperrgebiet südlich von Mailand.

Emanuele Cremaschi / Getty

In Italien sind bis Montagvormittag über 200 Personen mit Coronavirus-Infektion registriert worden. Italien hat damit am meisten Ansteckungsfälle nach China und Südkorea. Sieben Personen sind an der Erkrankung gestorben, sie alle waren alte Leute oder waren schon durch andere Krankheiten geschwächt.

In Mailand und in weiteren Gebieten Norditaliens herrscht eine Art Ausnahmezustand, das öffentliche Leben kommt streckenweise zum Stillstand oder ist stark ausgedünnt, wie lokale Medien berichten. Der sonst stets belebte Domplatz scheint geradezu menschenleer. Grossveranstaltungen mit viel Publikum sind abgesagt, Märkte, Restaurants und Diskotheken müssen schliessen, auch alle Schulen und Universitäten haben den Lehrbetrieb eingestellt. Wer kann, stellt auf Home-Office um. In den Lebensmittelläden sind Regale und Gefrierfächer zum Teil leer geräumt, die Leute decken sich mit Vorräten ein.

Bilder vom Rand der Sperrzone südlich von Mailand zeigen Sanitäter im Schutzanzug und Polizisten mit Gesichtsmasken. Sie sollen sich um erkrankte Einwohner kümmern und im Übrigen dafür sorgen, dass die Leute so wenig wie nötig ihre Wohnungen verlassen. Erlaubt ist das Einkaufen von Lebensmitteln. Bei einer Bäckerei heisst es auf einem Schild: «Nicht mehr als vier Personen auf einmal.» Die Strassen sind praktisch menschenleer. Die Einwohner haben anscheinend den Ernst der Lage begriffen und meiden Situationen, in denen es zu weiteren Ansteckungen kommen kann.

Spezialisiertes Personal von Gesundheits- und Notfalldiensten kann weiterhin in die abgeriegelten Dörfer gelangen, ebenso Lieferanten von notwendigen Lebensmitteln, unter Vorweisen entsprechender Passierscheine und Einhaltung bestimmter Vorsichtsmassnahmen. Die Bahnhöfe in der Sperrzone werden nicht mehr bedient, die Züge halten nicht an, sondern fahren durch. Aber auch dieser Durchgangsverkehr war am Montag behindert, weil sanitarische Kontrollen durchgeführt wurden.

Einige Bewohner sind offenbar aus der Notfallzone bei Lodi geflüchtet, noch bevor die Absperrung offiziell in Kraft trat. So setzte sich am Samstag eine Familie in die Region Kampanien bei Neapel ab. Kaum waren die Leute in ihrem Heimatdorf eingetroffen, verfügte der Bürgermeister Hausarrest für sie – eine gezielte Massnahme, um eine allfällige Weiterverbreitung des Virus zu unterbinden. Weniger gezielt scheint die Anordnung des Präsidenten der Region Basilicata in Süditalien: Er stellte sämtliche in letzter Zeit aus Norditalien Angereisten für zwei Wochen unter Hausarrest.

Modischer Gesichtsschutz an der Milan Fashion Week.

Modischer Gesichtsschutz an der Milan Fashion Week.

Matteo Bazzi / EPA

Mit Gesichtsmasken auf dem Laufsteg

Am Montag geht in Mailand die Modewoche, der traditionelle Grossanlass der Textil- und Designmetropole, zu Ende. Am Sonntag defilierten die Modelle noch unentwegt über den Laufsteg, ohne Gesichtsmasken. Im Publikum hingegen waren jetzt Gesichtsmasken angesagt. Das «Modevolk» liess sich auch standesbewusst modische Gesichtsverhüllungen einfallen, wie Bilder von den Veranstaltungen zeigen. Auch Bilder aus Venedig zeigen merkwürdige Szenen: Touristen und Einheimische, einige mit Mundschutz, andere mit Gesichtsmasken.

Wer hat «Patient 1» angesteckt?

Der Seuchenausbruch südlich von Mailand begann im Spital von Codogno. Dort wurde «Patient 1» behandelt, ohne dass anfänglich irgendein Verdacht auf eine Coronavirus-Infektion bestand. Entsprechend wurden keine Vorsichtsmassnahmen ergriffen, das Virus sprang auf Angehörige der Belegschaft und auf andere Patienten über. Eine solche Spitalinfektion sei «die unglücklichste mögliche Situation», erklärte Massimo Galli, Chefarzt der Abteilung für Infektionskrankheiten am Spital Sacco von Mailand, gegenüber der Zeitung «Corriere della Sera». Darum heisst es jetzt für Leute mit Grippesymptomen: daheim bleiben, Notarzt rufen, Test abwarten (ein Rachenabstrich mit Wattestäbchen).

Wie «Patient 1» angesteckt wurde, ist im Übrigen unklar. Zuerst dachte man, ein Rückkehrer aus Schanghai habe ihn angesteckt. Doch hat sich inzwischen herausgestellt, dass dieser angebliche «Patient 0» nicht Träger des Coronavirus ist, er hat das Virus nicht aus China eingeschleppt, die Infektion hatte nicht bei ihm ihren Ursprung. «Patient 1» war drei Wochen lang Träger des Virus, ohne dass die Krankheit bei ihm ausbrach. Er führte ein aktives Sozialleben, unter anderem nahm er an zwei Wettläufen teil. Er steckte etwa zwanzig Personen an, ohne zu wissen, dass er eine Gefahr für andere darstellte.

Der sekundäre Seuchenherd im Veneto, in einem Dorf nahe Padua, entstand offenbar, weil ein Bauer sich bei einem Besuch im primären Seuchenherd südlich von Mailand infiziert hatte. Von ihm sprang das Virus auf mehrere weitere Personen über. Ausgangspunkt der Ansteckungen hier war eine Bar, wo man sich zum üblichen Schwatz traf.

Die Zahl der derzeit Infizierten in Italien sinkt stetig

Bestätigte Coronavirus-Fälle in Italien, nach Status der Patienten (in Tausend)
Tote
gegenwärtig Infizierte
Genesene

Die ersten zwei Coronavirus-Patienten waren in Italien am 31. Januar in Rom entdeckt worden, ein chinesisches Touristenpaar. Sie wurden sofort in Spitalpflege gebracht und isoliert. Zuvor hatten sie sich in Mailand und Bologna aufgehalten, dort wurden Vorsichtsmassnahmen ergriffen. Sogleich erliess die italienische Regierung auch ein Verbot für sämtliche Flüge von und nach China. Kein anderes europäisches Land verhängte eine derart einschneidende Massnahme.

Das Verbot löste Unmut in der italienischen Tourismusbranche aus und auch vonseiten der chinesischen Regierung. Diese betrachtete es als unfreundlichen Akt und verlangte dessen Aufhebung. Rassistische Anfeindungen gegen Chinesen in Italien, vereinzelt auch tätliche, trugen nicht zur Stimmungsaufhellung bei. Die italienische Regierung hielt am Verbot fest, es ist immer noch in Kraft – aber natürlich kann, wer unbedingt will, mit einem Umweg über andere Flughäfen dennoch von China nach Italien gelangen.

Beim jetzigen Kenntnisstand kann man sagen: Das Flugverbot war nicht unbegründet – aber es hat die Bildung eines Coronavirus-Herdes in Italien nicht verhindert. Mit einiger Besorgnis und auch Kopfschütteln hat man nun in Italien zur Kenntnis genommen, wie Österreich am Sonntagabend Personenzüge aus Italien am Brenner vorübergehend stoppte. Ein Kommentator brachte es auf den Punkt: «Jetzt sind wir die Chinesen.»

Vor dem San-Siro-Stadion in Mailand: Die geplanten Spiele sind wegen der Coronavirus-Infektion in Norditalien abgesagt.

Vor dem San-Siro-Stadion in Mailand: Die geplanten Spiele sind wegen der Coronavirus-Infektion in Norditalien abgesagt.

Daniele Mascolo / Reuters

Italien hat eine sehr grosse chinesische Bevölkerung, etwa 300 000 Personen im ganzen Land, 50 000 von ihnen leben allein in Mailand, ein weiteres Zentrum ist Prato in der Toscana. Wer Familienverbindungen pflegen will, ist auf das Flugzeug angewiesen. In diesem Fall waren besonders Italienchinesen betroffen, die zum chinesischen Neujahr Verwandte in China besucht hatten und jetzt nicht mehr heimreisen konnten.

Zuspruch erhielten die italienischen Behörden aus Brüssel. Die Kommissarin für Lebensmittelsicherheit, Stella Kyriakides, lobte das «schnelle und effiziente» Vorgehen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die Europäische Union unterstützt Italien bei der Krisenbewältigung mit 230 Millionen Euro.

Auch im fernen Rom führte das Coronavirus dazu, dass etliche Passagiere am Sonntag in der Metro mit Gesichtsmasken unterwegs waren. Andere versteckten Nase und Kinn hinter Halstüchern, um sich im Gedränge nicht anzustecken. Am Abend waren die Taxis ausgebucht, weil offenbar viele das Taxi der Metro vorzogen, um im vermeintlich geschützten Privatraum eines Autos statt im öffentlichen Raum des Massenverkehrs unterwegs zu sein. Am Montag schien auf dem Bahnhof Roma Tiburtina und auf dem naheliegenden Busbahnhof normaler Betrieb zu herrschen, nichts deutete auf besondere Anspannung oder gar Panik hin. Ein Strassenhändler bot Gesichtsmasken zum Preis von 5 Euro an.

Das Coronavirus infiziert jetzt auch die italienische Wirtschaft. Die Mailänder Börse ist in den ersten Handelsstunden am Montag mit einem Verlust von 4,2 Prozent in die Woche gestartet. Der Spread, der Risikozuschlag auf italienische Staatsanleihen im Vergleich mit deutschen, erhöhte sich auf 145 Basispunkte. In den letzten Monaten hatte er sich zurückgebildet, einerseits wegen des allgemeinen Niedrigzinspanoramas, aber auch weil das Vertrauen in die italienische Regierung sich gestärkt hatte.

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